«Kinder sind keine Gegenstände»
Rund einen Monat nach Aufnahme seiner Tätigkeiten im UNO-Ausschuss für die Rechte des Kindes zieht der Schweizer Jean Zermatten eine erste Bilanz.
Im Gespräch mit swissinfo äussert sich der Anwalt für Kinder und frühere Jugendrichter über seine Hoffnungen und Projekte innerhalb des UNO-Komitees.
swissinfo: Herr Zermatten, Sie waren während über 30 Jahren Jugendrichter. Was ist aus dieser Zeit geblieben?
Jean Zermatten: 33 Jahre, das ist ein Leben…Hätte man nicht eine tief innen verankerte Überzeugung, würde man nie so lange bleiben. Von Beginn an war ich vom meiner Arbeit begeistert. Während all dieser Jahre habe ich den Kontakt zu den Familien und Kindern sehr geliebt.
Inzwischen habe ich die Gelegenheit erhalten, die Schweiz zu verlassen, was mir eine andere Vision ermöglicht. Der Beitritt zum UNO-Komitee ist in einem gewissen Sinn die logische Fortsetzung.
swissinfo: Als Richter genossen Sie vermutlich eine weitreichende Autonomie. Die Arbeit innerhalb einer riesigen Institution wie der UNO dürfte trotzdem weniger konkret sein. Wie sehen Sie das?
J.Z.: Es stimmt, alles ist anders. Zuvor organisierte ich meine Agenda nach meinem Gutdünken. Ich war der Chef. Jetzt bin ich eines von 18 Mitgliedern im Komitee, und die Agenda wurde bereits von anderen festgelegt. Es ist eine Arbeit im Kollektiv.
Zudem habe auch nicht mehr den direkten Kontakt. Auch wenn wir die Beziehungen mit den Mitgliedstaaten pflegen, wickelt sich der Kontakt via Dossier ab.
Und dann ist da die UNO! Einige sprechen von der «Grossen Maschinerie». Ich wäre da weniger abschätzig. Ich würde eher von einem Grossunternehmen sprechen. Es ist etwas schwierig, sich nach einmonatigem Lehrgang festzulegen.
swissinfo: Trotzdem, haben Sie den Eindruck, voranzukommen und konkrete Arbeit leisten zu können?
J.Z.: Würde ich nicht daran glauben, hätte ich das Mandat nicht angenommen. Im Gegenteil, ich glaube, es gibt viel zu tun, und das Komitee für die Rechte des Kindes hat nicht auf mich gewartet, um gute Arbeit zu leisten. Wenn man die Berichte liest, sieht man die bereits realisierten Fortschritte.
swissinfo: Liegen Ihnen gewisse Dossiers mehr am Herzen als andere?
J.Z.: Am meisten liegt mir die Idee am Herzen, dass Kinder weder Gegenstände noch Ware sind. Ein Kind ist bereits eine vollständige Person mit Rechten, nicht nur ein kleines Dingsda. Wenn man das begriffen hat, sind wir einen grossen Schritt weiter.
Die meisten Verletzungen, die wir beobachten, haben damit zu tun, dass Kinder als Waren betrachtet werden, die man ausleihen, austauschen, verkaufen und misshandeln kann.
swissinfo: Über welche Art von Instrumenten verfügt der Ausschuss für die Rechte des Kindes, damit dieses Prinzip zur Anwendung kommt?
J.Z.: Er verfasst regelmässig Berichte über die Lage der Kinderrechte in den 192 Unterzeichnerstaaten der UNO-Kinderrechts-Konvention. Es ist eine Art Druck, der auf die Fabrikanten, mit anderen Worten auf die Arbeitgeber ausgeübt wird.
Nehmen wir als Beispiel die Kinder, die Fussbälle nähen. Zusammen mit dem Weltverband der Sportartikel-Industrie ist es gelungen, die Kinderarbeit in zwei Tälern an der Grenze zwischen Pakistan und Indien praktisch vollständig auszurotten.
swissinfo: Könnte die Schweiz mehr tun, um die Kinderrechte im eigenen Land zu verteidigen?
J.Z.: Die Schweiz hat noch Korn zu mahlen. Sie muss ihre Gesetzgebung der Konvention angleichen. Auf gewissen Gebieten ist sie keine gute Schülerin.
swissinfo: Welche meinen Sie?
J.Z.: Zum Beispiel, was den Zugang zu den Kinderkrippen betrifft. Da beobachten wir zahlreiche Ungleichheiten. Die Schweiz ist eines der wenigen Länder, die kein Kinder- und Familienministerium haben. Das führt zu fehlender Koordination.
Ungleichheiten gibt es auch bei der Höhe der Kinderzulagen. In meinem Kanton erhält man pro Kind bis zu 360 Franken, in anderen sind es lediglich 100 Franken.
swissinfo: Das Hauptproblem in der Schweiz ist also der Föderalismus?
J.Z.: Ja, übrigens nicht nur in der Schweiz. Er führt in allen Ländern, die dieses System kennen, zu Problemen.
Kürzlich musste ich mich mit dem Dossier Australiens befassen, das bald seinen Bericht vorlegen wird. Auch dort führt der Föderalismus zu Ungleichheiten, so auf dem Gebiet der Jugend-Justiz: Die Altersgrenze variiert unter den einzelnen Bundesstaaten – und dies im selben Land.
swissinfo: Während all dieser Jahre haben Sie ihr Engagement auf dem Gebiet der Kinderrechte ausgeweitet. Was treibt Sie an?
J.Z.: Das ist einfach zu erklären: Ich bin sicher, dass Kinder viele Ressourcen in sich bergen. Jedes Mal, wenn ich Vertrauen in Jugendliche setzte, wenn ich dachte, sie seien fähig, ein Problem mit etwas Hilfe zu lösen, traf das zu.
Wir haben zu oft die Tendenz zu glauben, Kinder und Jugendliche seien total abhängig von den Erwachsenen. Wir müssen mehr Vertrauen in sie haben.
swissinfo-Interview: Alexandra Richard
(Übertragung aus dem Französischen: Gaby Ochsenbein)
Der UNO-Ausschuss für die Rechte des Kindes zählt 18 Mitglieder.
Er hat den Auftrag, die Einhaltung der UNO-Kinderrechts-Konvention in den 192 Mitgliedstaaten zu überprüfen.
Er verfasst alle 5 Jahre einen Bericht zur Lage der Kinderrechte.
Nach dem Jura-Studium arbeitet Jean Zermatten während 8 Jahren am Jugendstrafgericht in Freiburg.
1980 gründet er im Kanton Wallis das Jugendgericht, wo er 25 Jahre lang als Jugendrichter amtet.
Parallel dazu weitet er sein Engagement auf dem Gebiet des Kinderschutzes aus. Er leitet das Internationale Institut für Kinderrechte.
Am 23. Februar 2005 wird Jean Zermatten (57) im ersten Wahlgang mit 111 von 186 Stimmen als erster Schweizer in den UNO-Ausschuss für die Rechte des Kindes gewählt.
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