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Kinderraub

Jenischer Knabe beim Messerschleifen. swissinfo.ch

Der Umgang mit den Fahrenden ist ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte. Jahrzehntelang wurden gewaltsam Familien auseinander gerissen, Kinder in Heime gesteckt oder zu Pflegeeltern gegeben. Ziel: die Zerstörung der fahrenden Lebensweise.

Zigeuner unerwünscht! Die Schweiz war einer der ersten Staaten, die systematisch gegen Fahrende vorgingen. Bereits 1906 erliess der Bundesrat eine Grenzsperre gegenüber Zigeunern und verbot deren Beförderung mit der Bahn und mit Dampfschiffen. Ausländische Fahrende wurden festgenommen, registriert und bis zur Ausschaffung in Arbeitsanstalten oder Obdachlosenheimen interniert.

Zwangsassimilation

Während die ausländischen «Zigeuner» – meist Roma und Sinti – gar nicht erst hineingelassen wurden, galt es, die einheimischen Fahrenden zu assimilieren. Bund, Kantone und Gemeinden billigten und förderten die Zwangsassimilation der schweizerischen Jenischen durch die Stiftung Pro Juventute. Diese gründete 1926 das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse».

Das «Hilfswerk» erblickte seine Aufgabe darin, sowohl fahrende als auch sesshafte jenische Familien auseinanderzureissen und die Kinder in Heimen, Anstalten und Pflegefamilien unterzubringen. Dabei stand nicht das Wohl des Kindes im Zentrum, sondern die Tätigkeit des «Hilfswerkes» zielte auf die «Unschädlichmachung» und Zerstörung der nicht sesshaften Lebensweise.

Zerstörte Kindheit

Die genaue Zahl der Kinder, die seit 1926 von ihren Familien weggerissen wurden, ist nicht bekannt. Eine Aufstellung, die auf Angaben der Pro Juventute beruht, listet 619 Fälle auf. Seine aktivste Phase hatte das «Hilfswerk» in den 30er und 40er Jahren, als sich phasenweise über 200 Kinder in seiner Obhut befanden.

Schon bald war das «Hilfswerk» mit einem Mangel an Pflegeeltern konfrontiert, und so gelangten immer mehr Kinder in Heime, psychiatrische Kliniken und Erziehungsanstalten.

Die Aktivität des «Hilfswerkes» führte in vielen Fällen zur Stigmatisierung und Kriminalisierung der betroffenen Kinder. Eine vom Bund in Auftrag gegebene wissenschaftliche Untersuchung kam 1998 zum Schluss: «Ein Grossteil der Opfer des ‹Hilfswerks› hat die Folgen nie überwunden, leidet an psychischen und physischen Schäden der zerstörten Kindheit und Jugend.»

Wiedergutmachung

Das «Hilfswerk» musste erst 1973, nach einer Artikelserie im «Schweizerischen Beobachter», unter dem Druck des öffentlichen Protestes seine Tätigkeit einstellen. In der Folge schlossen sich die Betroffenen in verschiedenen Organisationen zusammen, um Wiedergutmachung zu verlangen und die politischen Interessen der Jenischen zu vertreten.

In den letzten Jahren haben Bund und Kantone Verantwortung für das an Jenischen begangene Unrecht übernommen und auch ihre Bereitschaft zur Aufarbeitung der Geschichte signalisiert.

Für die Aufarbeitung des Vorgefallenen und für die Rehabilitation und Entschädigung der inzwischen bereits in vielen Fällen verstorbenen Opfer setzen sich die 1975 gegründete «Radgenossenschaft der Landstrasse», die auch die Dachorganisation und politische Vertretung der Jenischen ist, die 1986 gegründete Stiftung «Naschet Jenische» und der ebenfalls 1986 gegründete Verein «Kinder der Landstrasse» ein. Die 1997 gegründete und vom Bund finanzierte Stiftung «Zukunft für Schweizer Fahrende» fördert die Wahrung der kulturellen Identität der Jenischen und die interkulturelle Toleranz.

swissinfo

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