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Kontroverse um Kosovo-Anerkennung

Französische Kfor-Truppen vor dem UNO-Gerichtsgebäude in Kosovska Mitrovica. Später räumten sie das Feld. Keystone

Die Schweizer Regierung habe richtig entschieden, die Autonomie Kosovos rasch anzuerkennen. Dies sagt der deutsche Balkan-Spezialist Jens Reuter an einer Tagung in Bern.

Ganz anderer Meinung ist der Schweizer Staatsrechtler Thomas Fleiner: Der Bundesrat habe mitgeholfen, einen Präzedenzfall mit gefährlichem internationalem Konfliktpotenzial zu schaffen.

Der Weg Kosovos zu einem demokratischen Land wird lang und beschwerlich. Eine florierende Wirtschaft, die der Bevölkerung Arbeit und Wohlstand bringt, ist nicht in Sicht.

Darüber waren sich Balkan-Experten einig. Das war aber auch schon der einzige Konsens, der an der Tagung zur Frage über das «Wie weiter?» nach der Unabhängigkeit Kosovos herrschte. Der Anlass in Bern wurde vom Forum Ost-West organisiert.

«In der Politik muss man die notwendigen Grausamkeiten gleich am Anfang begehen»: Mit dem Zitat Bismarcks begrüsste Jens Reuter die Haltung der Schweizer Regierung.

UNO-Konvention ignoriert

«Aus Unrecht kann man kein Recht ableiten», sagte dagegen Thomas Fleiner. Der Freiburger Staatsrechts-Professor und Föderalismus-Experte hatte als Berater auf serbischer Seite an den Verhandlungen über den Status Kosovos teilgenommen. Er geisselte namentlich die Verletzung der UNO-Resolution 1244, in der Kosovo als integraler Bestandteil Serbiens verankert sei.

Mit der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts helfe die Schweizer Regierung, einen gefährlichen Präzedenzfall zu schaffen. Erstmals seit den Kolonien erhalte ein Volk das Recht auf Selbstbestimmung, und das vor der Garantie des Territoriums und der Grenzen. Damit sei eine neue Pandora-Büchse geöffnet, deren Auswirkungen heute noch überhaupt nicht absehbar sei, sagt Fleiner zu swissinfo.

Präzedenzfall ja oder nein, das ist für Jens Reuter eine «akademische Frage». Er hält es für normale politische Praxis, dass sich abspaltungswillige Gruppen auf die Sezession Kosovos berufen können.

Keine Gegenmassnahmen befürchtet

Nach der umgehenden Anerkennung Kosovos könne die serbische Seite entscheiden, ob sie gegen die Schweiz Massnahmen ergreifen oder die fruchtbare Zusammenarbeit fortsetzen wolle. Reuter glaubt im Gespräch mit swissinfo eher an letztere Variante.

Bei der albanischen Mehrheit im Kosovo habe die Schweiz mit ihrem «mutigen Entscheid» ihre Hochachtung weiter gefestigt. Die Projekte mit Schweizer Unterstützung würden jetzt mit neuem Schwung fortgesetzt.

Hass allgegenwärtig

Illusionen macht sich Reuter aber keine. «Es gibt keine Berührungspunkte zwischen Albanern und Serben, der Hass ist zu gross, die Gefahr von Übergriffen latent.» Dies zeige der jüngste Vorfall von Montag in Kosovska Mitrovica, wo Serben ein von UNO- und Kfor-Soldaten geräumtes Gerichtsgebäude stürmten. Die Folgen: ein toter UNO-Polizist, 130 Verletzte, davon 63 Soldaten von UNO und Kfor.

Auch in der Frage der Alternativen zur Autonomie-Erklärung gehen die Meinungen der beiden Experten auseinander. Als «Pionierland für friedliche Beilegung von Streitigkeiten» hätte sich die Schweiz laut Fleiner für ein internationales Schiedsgericht stark machen müssen.

Die Krux liegt für ihn aber insbesondere darin, dass die Status-Verhandlungen nicht aufgrund der UNO-Resolution 1244 geführt worden seien. Diese garantiert Serbien dessen Territorium, Kosovo eine substanzielle Autonomie. «Zwischen diesen Eckpfeilern hätten die beiden Seiten einen Konsens finden müssen.»

Offene Fragen

Für Reuter war seit 1999 klar, dass es für Kosovo keine Rückkehr nach Serbien geben würde. Nach den blutigen Übergriffen 2004 auf Angehörige der serbischen Minderheit hätte die Weiterführung des Status quo erst recht Blutvergiessen bedeutet.

Aber auch Reuter hat Vorbehalte. So sei der Weg Kosovos in die UNO unklar. Als «groben Konstruktionsfehler» gar taxierte er die Machtfülle des EU-Sondergesandten Pieter Feith. Sie mache den Niederländer zum «allmächtigen Vizekönig» Kosovos, und dies auf unbestimmte Zeit.

Das führe zu einem Paradox: In der Frage, wie Kosovo näher an Brüssel herangeführt werden könne, verhandle die EU mit sich selber, so Jens Reuter.

swissinfo, Renat Künzi

Das unabhängige Forum Ost-West ist auf Mittel- und Osteuropa und Zentralasien spezialisiert. Präsident ist der ehemalige Fernseh-Journalist und Publizist Erich Gysling.

Ziel des Forums ist es, das gegenseitige Verständnis und die Zusammenarbeit von engagierten Menschen und Organisationen aus Osteuropa und der Schweiz zu fördern.

Das Forum versteht sich auch als Plattform für neue Ideen. Es kreiert zudem Projekte in den mittel- und osteuropäischen Staaten.

Seit 1996 organisiert das Forum jährliche Tagungen zur Situation auf dem Balkan.

Am 17. Februar 2008 hat sich Kosovo für unabhängig erklärt.

Bisher anerkannten 27 Länder den neuen Staat, 24 weitere haben ihre Bereitschaft angekündigt (Stand 18. März).

Die EU unterstützt das neue Land in den kommenden Jahren mit einer Mrd. Euro, die USA mit 230 Mio. Euro.

Ob der neue Staat von der UNO anerkannt wird, ist noch unklar.

In der Schweiz leben zwischen 170’000 und 190’000 Kosovarinnen und Kosovaren. Das entspricht rund 10% der Bevölkerungszahl im Kosovo.

Seit 1999 beteiligt sich die Schweiz an den von der Nato angeführten internationalen Friedenstruppen KFOR. Rund 200 Swisscoy-Soldaten sind im Kosovo stationiert.

Die Schweiz gehört zu den wichtigsten Geberländern des Kosovo. Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) und das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) wollen für ihre Hilfsprogramme 2008 13,9 Mio. Franken einsetzen.

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