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Kosovo: der harzige Weg zum Rechtsstaat

Ein französischer Offizier im serbisch dominierten Norden von Kosovo an der Grenze zu Serbien. Keystone

Armut, fehlende wirtschaftliche Perspektiven, Korruption und Konflikte prägen Kosovo. Dennoch gebe es bedeutende Fortschritte, sagt der Schweizer Alexander Hug, Chef der Eulex-Menschrechtsabteilung. Das Hauptproblem sei die Umsetzung des geltenden Rechts.

Vier Jahre nach der einseitigen Unabhängigkeitserklärung ist Kosovo ein Staat mit etlichen Problemen. Die Arbeitslosigkeit beträgt offiziell 43%. Andere Quellen schätzen sie wesentlich höher. Das durchschnittliche pro Kopf-Einkommen liegt bei rund 1200 Euro im Jahr. Die grösste Einnahmequelle sind die Transfergelder der in der Schweiz und in Deutschland lebenden Kosovaren sowie die Gelder der Internationalen Gemeinschaft.

Die serbische Minderheit im Norden verweigert der albanisch geführten Zentralregierung in Pristina die Gefolgschaft. Das heisst, die Regierung hat ein Viertel ihres Territoriums nicht unter Kontrolle. Mit Unruhen und Grenzblockaden sorgt der Norden seit einigen Monaten regelmässig für Schlagzeilen.

Die Fokussierung auf den Norden lenke vom Hauptproblem Kosovos ab, sagt Alexander Hug. «Denn dadurch vergisst man, dass die Umsetzung der geltenden Rechtsordnung in ganz Kosovo ein Problem ist und nicht nur im Norden. Viele der Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit sind nicht nur im Norden, sondern im ganzen Kosovo passiert, und sie werden auch im Süden verhandelt.» Zudem befänden sich die grossen Grenzübergänge nach Serbien, Mazedonien und Albanien nicht im Norden, sondern im Süden des Landes.

Ziviles Dasein – der Hauptfaktor

Er könne nicht spekulieren, wie eine Lösung für die ethnischen und politischen Probleme des Nordens aussehen könnte, sagt Hug, «aber es wird eine Lösung geben müssen. Und zwar nicht, weil es untragbar ist, einen Staat zu haben, der einen Teil seines Staates nicht selbst kontrollieren kann, sondern weil es wichtig ist, dass die Leute, die im Nordkosovo leben zu ihrem Recht kommen müssen.»

Im Norden leben 40’000 Menschen. «Sie wollen heiraten, ein Haus verkaufen oder ein Testament machen. Sie müssen eine Rechtsgrundlage haben für ihr ziviles Dasein. Das wird wahrscheinlich der Hauptfaktor sein, wieso es zu einer Lösung kommen muss und nicht die grossen politischen Gebärden, die zurzeit ausgetragen werden.»

«Kein Grundschullehrer»

Ob Albaner oder Serben, ob der Mann von der Strasse oder Offizielle hinter ihren Pulten: Viele kritisieren die EU-Rechtsstaatsmission Eulex mehr oder weniger heftig. Für die einen mischt sie sich zu stark ein. Andere bemängeln, sie handle zu wenig entschlossen.

Die Eulex sei nicht zu verwechseln mit einem «Grundschullehrer, der nur dazu da ist, den kosovarischen Behörden auf die Finger zu schlagen», sagt Hug. «Die Eulex ist auch dazu da, die Behörden zu beraten.»

An dieser Vorgabe müsse sich auch der Erfolg der Eulex messen. «Es ist einfacher zu sagen, wir haben 288 Kriminelle verhaftet und 281 Urteile gefällt, als zu sagen, wir haben die Polizei angewiesen, gewisse Schritte zu unternehmen, und nach der dritten Anweisung hat die Polizei ihre internen Richtlinien geändert, und seither sind die Rechte von Verhafteten besser gewahrt.» – Solche Fortschritte seien «schwierig zu fassen» und ebenso «schwierig zu messen.»

Europäischer Standard

Natürlich gäbe es auch viel Kritik an den kosovarischen Institutionen, sagt Hug. Doch müsse «man anerkennen, dass diese Fortschritte gemacht haben. Man muss auch bedenken, dass die Institutionen komplett neu sind. 1999, nach dem Krieg, gab es keine Polizei, gab es keine Gemeindeverwaltungen, keine Gerichte. Es gab nichts. In einem Zeitraum von 13 Jahren ist das ein beachtlicher Ausweis von Fortschritt».

Grundsätzlich seien in Kosovo nicht die Verfassung und die Gesetze das Problem, sondern deren Umsetzung, sagt Hug: «Die kosovarischen Gesetze und die Verfassung entsprechen in etwa dem europäischen Standard. Das Problem ist die Umsetzung durch die Polizei und durch die Justiz, aber auch die Umsetzung in der Verordnungs-Gesetzgebung, also auf der niedrigeren Stufe.»

Korruption als Tradition

Weit verbreitet in der ganzen Republik ist die Korruption. «Die Korruption hier ist nicht in den letzten drei oder zehn Jahren gewachsen, sondern das ist Tradition», sagt Hug. Nach all den Konflikten und den Phasen der Unterdrückung seien sich die Leute der Tatsache bewusst, dass «man mit einem parallelen System neben der offiziellen Doktrin oder Gesetzgebung» das Leben auch bestreiten könne.

Die Ursache der Korruption sei «vielfach nicht in der Absicht des Einzelnen zu finden, sondern im System, das den Service betreibt», sagt Hug und nennt das Beispiel der völlig ungenügenden Infrastruktur im Gesundheitswesen: «Wenn jemand eine dringende Behandlung in einem Spital will, dann bezahlt er, um die Kolonne abzukürzen. Das macht er nicht, weil man die andern in der Kolonne nicht mag, sondern weil das System nicht anders die Patienten abzuarbeiten vermag.»

Kampf auf der Strasse

Korruption und fehlende Rechtssicherheit hindert auch die dringend notwendige Entwicklung der einst kommunistischen Provinz. Eigentumsrechte für Immobilien- und Landeigentum sind unklar. Das gilt für Privatbesitz genauso wie für die Privatisierung von ehemaligen Staatsbetrieben.

Dazu komme, dass ein ausländischer Investor, der in ein Restaurant, eine Schneiderei oder eine Zementfabrik investieren möchte, «sich dann mit lokalen Rivalen bekämpfen» müsse und dies «im wirklichen Sinne, also auf der Strasse und nicht im Gericht», so Hug. «Das führt dazu, dass keine Investoren kommen.»

Am 17. Februar beging Kosovo den 4. Jahrestag seiner einseitigen Unabhängigkeits-Erklärung.

Nur wenige Tage vorher haben sich die Serben in einer Referendumsabstimmung mit 99.74% der Stimmen für einen Verbleib bei Serbien ausgesprochen.

Von den 35’500 Stimmberechtigten haben laut der serbischen Nachrichtenagentur Beta rund 75% am Referendum teilgenommen.

Juristisch ist die Abstimmung jedoch bedeutungslos.

Die EU betrachtete die Volksabstimmung als problematisch. Weder Gewalt und Barrikaden noch ein Referendum seien die Lösung für den Konflikt zwischen den Regierungen in Belgrad und Pristina, sagte eine EU-Sprecherin in Brüssel. «Wir werden eine Lösung nur durch Konsultationen und durch Dialog erreichen.»

Die EU versucht derzeit, in dem Konflikt zu vermitteln.

Serbien befürchtet durch das Referendum einen Rückschlag für seine Bemühungen, EU-Beitrittskandidat zu werden. Voraussetzung dafür sind Fortschritte hin zu einem guten nachbarschaftlichen Verhältnis zwischen Pristina und Belgrad.

Laut der Volkszählung 2011 hat die Republik Kosovo mehr als 1,7 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner.

Kosovo wird heute in grosser Mehrheit von Albanern bewohnt. Schätzungen der Weltbank aus dem Jahr 2000, denen das statistische Amt von Kosovo bis heute folgt, gehen von 88% Albanern, 7% Serben und 5% der übrigen ethnischen Gruppen aus.

Die grosse Mehrheit der Serben wohnt im Norden Kosovos. Dort sind sie in der Mehrheit.

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