Kosovo-Gespräch «kein Triumph» für Diplomatie
Micheline Calmy-Reys Kosovo-Reise werde kaum als "grosser Moment der Schweizer Diplomatie" in Erinnerung bleiben, meint André Liebich aus Genf.
Der Professor glaubt, die Aussenministerin gefährde die neutrale Rolle der Schweiz, indem sie sich für eine Form von Unabhängigkeit ausspreche.
Die Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey reiste letztes Wochenende für eine Viertages-Tour nach Kosovo, wo sie mit dem Präsidenten, Ibrahim Rugova, und Premierminister Bajram Kosumi Gespräche führte.
Ihre Reise schliesst an ihren kürzlich in Serbien und Montenegro erfolgten Besuch an. Dabei gab sich die serbische Regierung in Belgrad sehr klar und knapp: Präsident Boris Tadic sagte Calmy-Rey deutlich, dass er nicht bereit sei, über Kosovos Unabhängigkeit zu diskutieren.
So bleibt die Provinz Kosovo vorläufig offiziell ein Teil von Serbien und Montenegro, der Union, die auf Milosevics Jugoslawien folgte (auch in Montenegro bestehen starke Bestrebungen, sich von Serbien zu trennen).
Doch de facto befindet sich Kosovo unter Verwaltung der UNO und der NATO, nachdem ein 78 Tage dauerndern Luftkrieg unter NATO-Führung 1999 den serbischen Angriffen gegen die ethnischen Albaner ein Ende gesetzt hatte.
André Liebich, Professor für internationale Politik am Institut für Internationale Studien in Genf meint, die Schweiz sollte sich lieber ihre Optionen offen halten, falls sie ihre Glaubwürdigkeit vor allen Konfliktparteien behalten möchte, wenn Gespräche über den künftigen Status der Provinz stattfinden.
swissinfo: Micheline Calmy-Rey hat gesagt, dass eine Wiedereingliederung von Kosovo in Serbien und Montenegro weder wünschenswert noch wirklichkeitsnah sei. Was halten Sie davon?
Andre Liebich: Sicher. Es braucht eine neue Formel. Schliesslich gibt es das ehemalige Land nicht mehr, zu dem die Provinz Kosovo vor dem Krieg gehört hatte.
Serbien und Montenegro befindet sich als Land ebenfalls in Aufspaltung, die ganze jugoslawische Föderation ist völlig verschwunden. Es gibt deshalb keinen Weg zurück zur früheren Formel; dieser Umstand, denke ich, ist mittlerweile auch in Belgrad selbst akzeptiert.
swissinfo: Stimmen Sie mit der schweizerischen Aussenministerin überein, es sei an der Zeit, eine Entscheidung über den künftigen Status von Kosovo zu treffen?
A.L.: Gewichtige Gründe sprechen dafür, dass es einen neuen Anstoss in der Diskussion braucht. Denn die Ausschreitungen in Kosovo letztes Jahr, während denen nach einer Auseinandersetzung zwischen einem Serben und einem Albaner einige Serben umgebracht wurden, waren ein Schock.
Auch das Argument, wonach man schlafende Hunde nicht wecken soll, hat etwas an sich. Ein Prozess der Wiederaussöhnung soll ermöglicht werden. Deshalb lässt sich auch plausibel erklären, dass man die Zeit für sich arbeiten lassen sollte.
Ich würde nach allem was ich gesagt habe unterstreichen, dass niemand vorausnehmen sollte, wie das Kosovo-Problem gelöst werden kann. Es wirkt kontraproduktiv, vorzuschlagen, dass das Resultat für den Kosovo die Unabhängigkeit sein sollte.
Es geht nicht darum, einige Lösungs-Möglichkeit zu verschliessen, sondern darum, eine Situation herbeizuführen, bei der beide Seiten zu Konzessionen bereit sind.
swissinfo: Ist Calmy-Rey aus Ihrer Sicht mit dem Vorschlag einer möglichen Unabhängigkeit Kosovos vorgeprescht?
A.L.: Das ist möglich. Soweit ich gelesen habe, war Calmy-Rey erpicht darauf, die Status-Diskussion aufs Tapet zu bringen. Aber die ist schon auf dem Tapet und braucht keinen neuen Anstoss. Die andere Möglichkeit wäre, dass ihre Aussagen von ihren Gastgebern im Kosovo manipuliert und benutzt wurden.
Die Nuancen, wie die Aussenministerin den Begriff «Unabhängigkeit» umschreibt, scheinen auf dem Weg zu den Behörden des Kosovo verloren gegangen zu sein. Diese haben Calmy-Reys Vorschlag in einer Weise präsentiert, als ob die Schweiz Kosovo in seiner Bestrebung nach Souveränität unterstütze.
Alles in allem wird dies nicht als grosser Moment der Schweizer Diplomatie in Erinnerung bleiben.
swissinfo: Spielt Calmy-Rey ein gefährliches diplomatisches Spiel?
A.L.: Glücklicherweise verfügt die Schweiz über kein so grosses Gewicht. Aber ich denke nicht, dass ihr Vorgehen die eher bedächtige Art der Schweizer Diplomatie spiegelt.
Das gilt beispielsweise für die Karte der Neutralität, die die Schweiz immer noch ausspielt. Natürlich heisst Neutralität nicht, gleichgültig zu sein und sich nirgends zu engagieren. Sie bedeutet, Optionen offen zu halten.
Genau das hat sich bei diesem Besuch nicht ergeben – darum bin ich enttäuscht.
Natürlich könnte die Äusserung der Aussenministerin bezüglich der Unabhängigkeit nur eine unglückliche Formulierung gewesen sein, die von den Leuten vor Ort ausgenutzt wurde… Ich habe aber ihrerseits kein Abrücken von ihrer Position gesehen.
swissinfo: Aber Calmy-Rey scheint die eigenen Aussagen abgeschwächt zu haben, zum Beispiel mit ihrem Verweis auf eine mögliche Konföderation von Kosovo, Serbien und Montenegro…
A.L.: Das ist die Richtung, die man meiner Meinung nach einschlagen müsste. Aber es geht um die Abfolge: Verspricht man zuerst dem Kosovo die Unabhängigkeit, gibt diese und versucht nachher, eine regionale Ordnung zu schaffen? Das erscheint mir nicht sehr erfolgversprechend.
Oder geht man zuerst daran, eine Konföderation mit ihren eigenen Regeln aufzubauen und arbeitet dann innerhalb dieses Rahmens an der Unabhängigkeit? Das ist ein guter Ansatz. Er scheint aber nicht die Stossrichtung von Calmy-Rey zu sein.
swissinfo-interview: Ramsey Zarifeh
(Übertragung aus dem Englischen: Alexander P. Künzle und Philippe Kropf)
Ein 78-tägiger Luftkrieg im Sommer 1999 beendete die serbische Herrschaft über ethnische Albaner im Kosovo.
Die UNO errichtete in der Provinz, die offiziell immer noch zu Serbien gehört, ein Protektorat.
Die kosovarische Führung in Pristina will die Unabhängigkeit erreichen, die serbische Regierung in Belgrad schliesst das aus.
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