Krieg Russland-Georgien: Beide Seiten verantwortlich
Die Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini hat in Brüssel ihren Bericht zum Georgien-Krieg übergeben: Zwar habe Georgien dabei den ersten Schuss abgegeben, aber auch Russland sei mitverantwortlich.
Georgien habe den Kaukasuskrieg im August 2008 mit dem ersten Schuss begonnen und gegen das Völkerrecht verstossen. Aber Russland trage eine klare Mitverantwortung für den fünftägigen Krieg mit 390 Todesopfern.
Dies ist der Befund einer internationalen Untersuchungskommission unter der Leitung der Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini, die ihren von der EU in Auftrag gegebenen Bericht am Mittwoch in Brüssel vorlegte.
«Der Bericht ist im Grossen und Ganzen objektiv, darin ist die Schlussfolgerung enthalten, dass Georgien mit der Aggression gegen Südossetien begonnen hat», sagte der russische EU-Botschafter Wladimir Tschischow am Mittwoch laut der Agentur Interfax nach Auswertung des Dokuments.
Georgien reagierte zurückhaltend auf den brisanten Bericht. Die Darstellung, die eigenen Streitkräfte hätten mit dem ersten Schuss den Konflikt ausgelöst, «wäre eine vereinfachende Interpretation», sagte die georgische EU-Botschafterin Salome Samadaschwili.
Der Bericht gebe dagegen den «Gesamtkontext» wieder. Sie betonte, dass Russland in Georgien einmarschiert sei und noch immer Teile des Territoriums besetze.
Kein Frieden ohne Fakten
Tagliavini sagte, dass es «ohne sauber und neutral aufbereitete Fakten keine Chancen für einen Frieden gibt». Dies und nur dies sei der Zweck dieses Berichts. Sie verwies auf die wichtige Rolle, die die EU durch das Vermitteln des Waffenstillstands spielte, dank des mutigen Insistierens von Präsident Sarkozy, als Frankreich die EU präsidierte.
Auch heute sei die EU weiterhin bei der Stabilisierung engagiert, durch eine Beobachter-Mission und mit Gesprächen in Genf. «Die Mission ist Teil der EU-Politik, die eine friedliche und nachhaltige Lösung des georgischen Konflikts anzielt.»
Dieser Konflikt sei nicht nur von lokaler oder regionaler Bedeutung, sondern habe direkte Auswirkungen auf die Sicherheits-Architektur von ganz Europa.
Die Fact-Finding Mission hinter dem Bericht ist die erste in der Geschichte der EU. Mit ihr verbunden ist die Hoffnung, dass ein nüchternes Aufarbeiten aus der Sicht des internationalen Menschenrechts zur Lösung des Konflikts beitrage.
30 Experten
Tagliavini hofft, dass «der Bericht zu einem besseren Verständnis und vor allem zu einer nüchternen Beurteilung der Situation durch die beiden Konfliktparteien beiträgt». Und damit als Instrument diene, um zum Frieden und zur Stabilität in der Region und darüber hinaus beizutragen.
Dem Untersuchungsbericht liegen laut Uwe Schramm die Angaben von 30 Experten zugrunde. Schramm war von 2001 bis 2006 deutscher Botschafter in Georgien, und ebenfalls an der Ausarbeitung des Berichts beteiligt. Alle Seiten hätten sich kooperativ gezeigt.
Die Europäische Union hatte die Untersuchung im vergangenen Jahr in Auftrag gegeben. Sie solle die Ursachen des Krieges klären, aber keine Schuldzuweisungen beinhalten und damit für Kompensationsansprüche genutzt werden können, so Schramm.
Georgien wurde provoziert
«Die Russen haben russische Pässe ausgeteilt, was vom internationalen Recht her gesehen verboten ist», sagt Victor Mauer, stv. Leiter des Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich, gegenüber swissinfo.ch . Dies habe den Konflikt angeheizt und Georgien provoziert.
Doch habe laut Mauer Georgiens Präsident Michael Saakaschwili in seiner Reaktion falsch kalkuliert: «Er versuchte, den Westen, und im Speziellen die Nato in diesen Konflikt hineinzuziehen.»
Somit sei der Schuss hinter herausgegangen: Ohne Nato-Support, so Mauer, gab es für Georgien absolut keine Möglichkeit, diesen Konflikt zu gewinnen.
Das Versagen von Saakaschwili habe die Hoffnungen seines Landes, bald Nato-Mitglied zu werden, untergraben. Auch sei die politische Isolation gewachsen. «Ich sehe wenig Zukunft für ihn, weder in Georgien und sicher auch nicht in der internationalen Politik.»
Russische Bemühungen kaum unterstützt
Die Vorwürfe des Berichtes gegen Georgien dürften die russischen Bemühungen um weitere internationale Anerkennung von Abchasien und Südossetien nicht unterstützen; zu deutlich wird Moskau die Mitverantwortung gegeben. Bislang sind nur Nicaragua und Venezuela der Moskauer Entscheidung gefolgt.
Der russische Einmarsch in Südossetien und weit ins georgische Kernland hinein «ging weit über die Grenzen der Verteidigung hinaus», so der Bericht. In der abtrünnigen Region sei es zu sogenannten ethnischen Säuberungen gekommen: Die russischen Streitkräfte hätten die georgischen Einwohner vertreiben wollen.
Tiflis und Moskau schieben sich Schuld zu
Russland hat in Südossetien und Abchasien weiterhin Tausende Soldaten stationiert und die beiden Regionen als unabhängig anerkannt.
Für den Kriegsbeginn machen sich Tiflis und Moskau gegenseitig verantwortlich. Russland stellt seinen Einmarsch als Reaktion auf eine georgische Offensive in Südossetien dar. Saakaschwili erklärte, er habe auf russische Aggressionen reagiert.
Laut Bericht überschritten russische Truppen am 7. August die Grenze, nachdem die georgischen Streitkräfte eine Offensive in Südossetien eingeleitet hatten. Russische Panzer trieben die georgischen Streitkräfte in die Flucht und stiessen tief in Richtung der Hauptstadt vor.
Moskau betrachtet den 8. August als Kriegsbeginn, als die südossetische Hauptstadt Zchinwali von georgischer Artillerie beschossen wurde.
swissinfo.ch
Die Ursachen des Georgien-Kriegs gehen weit in die Geschichte zurück.
Unter anderem Stalin hatte mit der Zwangsansiedlung von Georgiern in Abchasien für ethnischen Sprengstoff gesorgt, der beim Zusammenbruch der Sowjetunion explodierte.
Die Südosseten und die Abchasen lösten sich zu Beginn der 1990er-Jahre mit Waffengewalt faktisch vom georgischen Zentralstaat los.
Russland half den Separatisten bereits damals militärisch und logistisch. Danach stationierte Moskau in beiden Konfliktregionen Friedenssoldaten.
Trotz seiner offiziellen Vermittlerrolle trat der Kreml in dem Konflikt jedoch stets als Schutzmacht für die Separatisten auf.
Russland hatte kein Interesse an einer schnellen Lösung der territorialen Streitigkeiten, verhinderten sie doch einen schnellen Nato-Beitritt Georgiens.
Nach dem gewonnen Krieg vor einem Jahr anerkannte Moskau Südossetien und Abchasien als souveräne Staaten.
Der Kreml, der sich auf den Kosovo als Präzedenzfall beruft, steht mit dieser Anerkennung bis heute jedoch praktisch isoliert da.
Die EU und die USA fordern von Moskau indessen, seine Truppen auf die Vorkriegs-Positionen zurück zu ziehen.
Heidi Tagliavini ist krisengeprüft: Die 1950 in Basel geborene Diplomatin arbeitete als Botschafterin in Bosnien, war im kriegszerstörten Tschetschenien für die OSZE tätig und leitete zwischen 2002 und 2006 die UNO-Beobachtermission in Georgien.
Ende vergangenen Jahres wurde sie von der EU zur Leiterin der Untersuchungskommission ernannt, die nun die Hintergründe zum Georgien-Krieg liefern soll.
Zur Diplomatie kam Tagliavini unter anderem durch ihren Cousin – dem späteren Staatssekretär Franz Blankart.
Zuvor hatte sie in Genf Romanistik und Russisch studiert.
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