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Kriegsverbrechen: langer Weg zur Gerechtigkeit

Gewohntes Bild in Spanien: Die Gebeine von Toten werden aus den Gräben neben den Strassen ausgegraben. Reuters

Kürzlich hat das spanische Parlament ein Gesetz erlassen, das die Opfer der Franco-Diktatur anerkennt. Ein neuer Anlauf der Politik gegen das Vergessen.

In seinem Buch «Juger la Guerre, juger l’Histoire» befasst sich der Genfer Journalist Pierre Hazan mit der Geschichte der internationalen Justiz.

Kann die Justiz vom Krieg zerstörten Gesellschaften das Vertrauen wieder zurück geben?

Die Nürnberger-Prozesse, Wahrheitskommissionen und internationale Kriegstribunale geben zunehmend Anlass zu einer positiven Antwort auf die Frage.

Pierre Hazan lebt in Genf und hat sich mit den sogeannnten Transitionsprozessen auf verschiedenen ehemaligen Kriegsschauplätzen auseinander gesetzt.

Er schreibt als Journalist für die Pariser Zeitung Libération und die Genfer Zeitung Le Temps und ist Autor zahlreicher Berichte über Ex-Jugoslawien und den Nahen Osten.

swissinfo: Spanien hat ein neues Gesetz, das die Vergangenheit des Landes zum Thema hat. Ist das ein Zeichen dafür, dass sich die Gerechtigkeit gegen die Kriegsverbrechen langsam durchsetzt?

Pierre Hazan: Spanien hat sich lange Zeit als Land verstanden, das demokratisch geworden ist, ohne aber seine Vergangenheit bewältigt zu haben.

Mit dem vom Parlament mehr als ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen genehmigten «Geschichtsgesetz» erkennt das Land die Kriegsverbrechen und die Verbrechen der Franco-Diktatur offiziell an. Für die Opfer ist das eine moralische Wiedergutmachung.

swissinfo: In der Tat hat dieser Prozess spät eingesetzt.

P.H.: Lange glaubte man, Vergessen und Stillschweigen genügten, um Gesellschaften nach Kriegen wieder zu kitten und zum Funktionieren zu bringen.

Während des Kalten Krieges begründete De Gaulle das Fernsehverbot für einen Dokumentarfilm über die deutsche Besetzung Frankreichs mit den Worten: «Unser Land braucht nicht die Wahrheit, sondern nationale Einigkeit und Hoffnung.»

Heute sind Sprache und Diskussionen unerlässlich für die Vernarbung der nationalen Wunden.

Die Nürnberger-Prozesse von 1945 und 1946 haben eine Entwicklung eingeleitet, welche jedoch während Jahrzehnten durch den Kalten Krieg gestoppt wurden.

Nach dem Fall der Berliner Mauer haben verschiedene Länder des Südens mit ihren Aussöhnungs-Prozessen begonnen.

swissinfo: Wie haben diese Länder den Prozess auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten?

P.H.: Am Ende der 1980er-Jahre sind praktisch zeitgleich drei geschichtliche Grossereignisse eingetreten: Das Ende der Militärdiktaturen in Lateinamerika, der Zusammenbruch der sozialistischen Regimes in Zentral- und Osteuropa und die Zerschlagung der Apartheid in Südafrika.

Für all diese Länder besteht die Herausforderung im Prozess des Übergangs von autoritären oder rassistischen Systemen zu Demokratien.

Die Länder setzen dazu auch Mechanismen und Methoden zur Wahrheitsfindung ein.

Im Wesentlichen geht es darum, Verbrechen der Vergangenheit aufzudecken und damit zu einer neuen nationalen Identität zu gelangen, welche die Taten nicht negiert, sondern vielmehr als Verbrechen anerkannt.

Argentinien und Chile haben eine Vorreiterrolle übernommen. Sie waren die ersten Länder, welche Wahrheitskommissionen eingesetzt haben.

swissinfo: In Argentinien wurde die Wahrheitskommission eingesetzt, um einen Gerichtsprozess gegen die Militärs zu verhindern.

P.H.: Das stimmt. Es ist jedoch faszinierend, zu beobachten, was daraus geworden ist. Wegen dem drohenden Militärputsch wurde der Prozess unterbrochen. Danach kam es zu einer Kommission, vor der sich die Folterer nicht öffentlich verantworten mussten. Die Folterer profitierten von Amnestien und der Gunst des Präsidenten.

Was stellt man 15 Jahre später fest? Die argentinische Gesellschaft setzt sich sehr stark mit dem Bericht der Wahrheitskommission auseinander. Er ist sogar zu einem Bestseller geworden.

Kürzlich wurden schliesslich die Amnestien hinterfragt und aufgehoben. Die Verantwortlichen wurden zur Rechenschaft gezogen.

swissinfo: Kann man dasselbe sagen von Südafrika?

P.H.: Hier ging die Kommission vom Prinzip aus, dass, wer die Wahrheit sagt und mit der Kommission zusammenarbeitet, ein Gesuch auf Amnestie stellen kann.

Resultat war, dass Dutzende von Folterern öffentlich über ihre Verbrechen redeten und so ein Repressions-System aufgedeckt haben, das heute keiner mehr in Frage stellen kann.

Die Anerkennung der Verbrechen hat die Bildung der neuen südafrikanischen Identität begünstigt.

swissinfo: Und die Opfer? Sind die nicht vergessen worden?

P.H.: 20’000 Opfer haben öffentlich ausgesagt. Aber es stimmt, dass die Opfer das Gefühl hatten, man verlange von ihnen, ihre Peiniger zu entschuldigen.

Viele waren auch verbittert, weil sie die bescheidenen Abfindungen erst spät erhielten. Gleichzeitig wurden die Profiteure der Apartheid materiell nie zur Rechenschaft gezogen.

swissinfo, Carole Vann, InfoSüd
(Übertragung aus dem Französischen: Andreas Keiser)

«Einer der Ausgangspunkte dieses Buches war der Krieg in Ex-Jugoslawien, über den ich als Journalist berichtete. Im Dezember 1992 trafen sich die politischen und militärischen Führer dieses Staates im Palais des Nations in Genf zu Friedensverhandlungen.

In dem gleichen Gebäude brüteten Experten im Auftrag des UNO-Sicherheitsrats über der Frage, wie die Verantwortlichen der Verbrechen gegen die Menschheit bestraft werden könnte. Einige dieser Verantwortlichen befanden sich wenige Meter von den Experten entfernt.

Diese schizophrene Situation hat mich gefesselt, weil sie eine Grundsatzfrage aufwarf: Darf man mit Kriegsverbrechern verhandeln? Darf man über die Geschichte urteilen während dem sie sich noch entwickelt? Oder anders gefragt, welcher Zusammenhang besteht zwischen Friede und Gerechtigkeit? Diese Fragen haben mich in Themenbereiche geführt, die ich in meinem Buch auskundschafte.»

«Juger la guerre, juger l’Histoire», von Pierre Hazan. PUF, 252 Seiten

Die systematische Aufarbeitung der Vergangenheit ist eine wichtige Etappe auf dem Weg vom Kriegszustand zu einem dauerhaften Frieden, laut dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Die Ziele dieses Vorgehens sind die folgenden:

Die Tatsachen offiziell anerkennen und verbreiten. Es geht dabei insbesondere um die Anerkennung der Leiden der Opfer.

Das Vertrauen unter den Konfliktparteien herstellen, sowie zwischen der Zivilgesellschaft und den staatlichen Institutionen.

Einen breit abgestützten Versöhnungsprozess einleiten, der die gesamte Bevölkerung einschliesst, um neue Konflikte zu verhindern.

Neue soziale Normen einführen und Verletzungen der Menschenrechte verhindern durch Sensibilisierung der Bevölkerung und Öffentlichkeitsarbeit.

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