Kritik nach dem Lawinenunglück an der Jungfrau
Nach dem Lawinentod von sechs Armeeangehörigen im Berner Oberland wird Kritik laut an der Armee. Die Militärjustiz hat Ermittlungen aufgenommen, die voraussichtlich Monate dauern werden.
Bergspezialisten machen angesichts der herrschenden Lawinengefahr Fragezeichen zur Durchführung der Hochgebirgstour. Bislang liegt aber kein konkreter Verdacht auf Fehlverhalten der Verantwortlichen vor.
Beim Unfall, der sich am Donnerstag Vormittag an der Südwestflanke der Jungfrau ereignete, verloren ein Wachtmeister und fünf Rekruten ihr Leben. Sie wurden von einer Lawine erfasst und stürzten mehrere hundert Meter tief ins Rottal. Die Männer im Alter zwischen 20 und 23 Jahren, vier davon aus dem Wallis und je einer aus den Kantonen Freiburg und Waadt, konnten nur noch tot geborgen werden.
Nicht nur in den Medien, sondern auch von Seiten erfahrener Bergspezialisten wird zunehmend Kritik laut. Er frage sich, sagt der Vizepräsident des Schweizerischen Bergführerverbandes Urs Wellauer, was die Gruppe um 10 Uhr im Aufstieg zum Rottal-Sattel gemacht habe, wenn sie um 5 Uhr früh zur Tour aufgebrochen sei. Grundsätzlich sollte man zu dieser Zeit bereits wieder im Abstieg sein.
Risiko unterschätzt?
Der erfahrene Bergführer Wellauer erinnert an die alte Weisheit, wonach der erste schöne Tag nach Neuschneefällen der gefährlichste sei. Aus eigener Erfahrung, sagte Wellauer gegenüber der Berner Zeitung «kann ich nur sagen, dass ich an dieser Stelle mehrmals umgekehrt bin».
Hans Möhl, der Hüttenwart der Rottalhütte, die nahe der Unglücksstelle liegt, hat kein Verständnis für die von der Armee unternommene Tour. Die Verhältnisse seien schwierig gewesen. An der Unglücksstelle sei es schon früher zu tödlichen Unfällen gekommen.
Die Eidgenössische Forschungsanstalt für Schnee und Lawinenforschung in Davos bestätigte, dass nach den Schneefällen der Vortage das Lawinenrisiko in der Region hoch war. «Am Donnerstag Morgen entschied ich angesichts der Schneeverhältnisse, nicht mit Gästen auf die Jungfrau zu steigen», sagt Johann Kaufmann, Bergführer in Grindelwald.
Langwierige Untersuchungen
Die beiden Bergführer, unter deren Leitung die Tour unternommen worden war, wurden vom militärischen Untersuchungsrichter bereits einvernommen. Ein Verdacht auf ein Fehlverhalten bestehe im Moment aber nicht, sagte der Sprecher der Militärjustiz Martin Immenhauser. Beim Verfahren der Militärjustiz geht es um eine vorläufige Beweisaufnahme gegen unbekannt, wie sie nach Militärunglücken üblich ist.
Je nach Verlauf der Beweisaufnahme kommt ein Strafverfahren wegen fahrlässiger Tötung in Betracht. Immenhauser rechnet mit mehrmonatigen Ermittlungen. Ein Resultat sei nicht vor Oktober zu erwarten. Die Untersuchung wird in enger Zusammenarbeit mit der Berner Kantonspolizei und der Militärpolizei sowie unter Beizug von Experten des Eidgenössischen Instituts für Schnee- und Lawinenforschung in Davos geführt.
«Eigentlich darf so etwas nicht passieren», sagt Adreas Bardill, der Kommandant der Gebirgsspezialtruppen. Grundsätzlich sei aber zu sagen, dass es jede Gruppe treffen könne, die im Hochgebirge unterwegs ist – «jetzt hat es eine Gruppe der Armee getroffen».
Hochgebirgstraining notwendig
Grundsätzlich gehe jede Armee übungshalber in schwieriges Gelände, «die Israelis in die Wüste, die Deutschen in die Arktis und wir in die Alpen», sagte Bardill. Um die Bedingungen des Ernsfalls zu trainieren, brauche es ein hartes Umfeld.
«Wir gehen davon aus, dass der Krieg nicht dort oben stattfindet, aber unsere Soldaten müssen sich in jeder Bedrohungslage auch in den Alpen bewegen können.» Es gebe im Hochgebirge wichtige Installationen der Luftwaffe und der Telekommunikation, diese reichten bis auf die Spitzen der Viertausender.
Bei ihren Einsätzen gingen die Gebirgsspezialisten «auf keinen Fall» an die Grenzen. «Für uns gelten die gleichen Beurteilungen der Gefahren und Risiken wie im Freizeitbergsport. Wir haben keine anderen Regelungen als die Bergführer oder der Alpen-Club.»
swissinfo und Agenturen
Im Jahr 2006 haben die Spezialisten des schweizerischen Alpinen Rettungsdienstes 477 Einsätze geleistet.
Insgesamt haben sie 695 Personen geholfen. Für 71 Menschen kam die Hilfe zu spät.
In 149 Fällen handelte es sich um Unfälle bei alpinen Ausflügen und in 124 Fällen um solche bei hochalpinen Klettertouren.
Allein durch Lawinen kamen seit dem Winter 1997/98 in den Schweizer Alpen gesamthaft 225 Menschen ums Leben, davon 15 im letzten Winter.
Die sechs Armeeangehörigen, die am Donnerstag an der Jungfrau den Lawinentod fanden,gehörten zu den Gebirgspezialisten-Abteilung 1 der Schweizer Armee.
Die folgenden Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um als Gebirgspezialist in die Rekrutenschule in Andermatt eintreten zu können:
Erfolgreiche Absolvierung eines Jugend + Sport-Gruppenleiterkurses in einem der beiden Sportfächer «Skitouren» oder «Bergsteigen».
Qualifikation gut bis sehr gut bei der Sportprüfung während der dreitägigen Aushebung.
Der Gebirgsdienst der Armee sollte innerhalb von 9 Stunden nach der Alarmierung einsatzbereit sein.
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