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Leben in New York fünf Jahre später

Der erste neue Wolkenkratzer beim Ground Zero in New York. swissinfo.ch

"Es war ein wunderschöner Spätsommertag, ein tiefblauer Himmel über Manhattan": Immer wieder hört diesen Satz, wer mit Menschen über den Tag spricht, den man in New York "nie vergessen" wird.

Doch der grosse Schrecken ist fünf Jahre danach zu einem grossen Teil der Normalität gewichen. swissinfo-Gespräch mit Schweizern in New York.

Der tiefblaue Himmel hat sich ebenso in die Erinnerung der Menschen eingegraben, wie die Bilder der einstürzenden Twin Towers und der unglaublichen Szenen, die sich dabei abspielten.

Heute gehören diese Bilder nicht mehr zum Alltag. Auf den Jahrestag hin werden sie aber jeweils wieder wach.

Das Bewusstsein: Ein Anschlag

Daniel A. Wuersch, ein Schweizer Anwalt, dessen Büroräume damals rund 500 Meter Luftlinie vom World Trade Center entfernt lagen: “Ich war im Auto unterwegs aus New Jersey, als ich über dem World Trade Center Rauchschwaden bemerkte.
Es war ein wundervoller Spätsommertag.”

Ganz ähnlich tönt es bei Vreni Keller, die ein Schokoladenimport-Business betreibt und in Union City, auf der andern Seite des Hudson, in New Jersey, lebt. Von ihrer Wohnung aus sieht sie direkt auf die Südspitze Manhattans.

“Ich sah aus der Wohnung heraus den Rauch, rief meinen Mann in Manhattan an und stellte den Fernseher ein. Als die zweite Maschine in den Turm flog, wurde mir schlagartig bewusst, das kann kein Unfall sein.”

Wuersch hörte am Radio, dass ein Flugzeug in den Turm geflogen sei. Und kurz darauf, eben sei eine weitere Maschine in den zweiten Turm geflogen.

“In dem Moment wurde mir klar, das ist ein Anschlag. Meine erste Sorge galt meinen etwa 12 Mitarbeitern.”

Insgesamt vergingen fast zwei Tage, bis alle kontaktiert werden konnten.
“Gott sei Dank war niemandem etwas Schlimmes zugestossen.”

Vreni Keller fuhr in die Schule ihrer Tochter, um diese nach Hause zu holen.
“Ich wollte sie einfach bei mir haben.”

Angst beherrscht den Alltag nicht

Heute gehört dieser Tag im September 2001 nicht mehr zum Alltag von Wuersch und Keller.

“Bisher ist ja auch nichts mehr passiert. Aber das kann auch nur die Ruhe vor dem Sturm sein”, sagt Wuersch.

Auch bei Vreni Keller ist der 11. September in den Hintergrund gerückt. Aber sie fährt nicht mehr mit der U-Bahn seither.

Irak-Krieg war ein Fehler

Zur Politik, welche die Regierung Bush in ihrem Krieg gegen den Terror verfolgt, meint Wuersch: “Es ist wohl nicht der richtige Weg, immer weniger Leute haben Vertrauen in die Regierung.”

Der Irak-Krieg sei ein Schritt gewesen, der mehr Schaden als Nutzen brachte.


Auch Keller hat keine grosse Freude an der Regierung Bush. “Wird Zeit, dass wir einen anderen Präsidenten erhalten.”

Wuersch fühlt sich durch die Massnahmen, welche die Regierung seit 9/11 ergriff, im täglichen Leben nicht gross betroffen, auch wenn gewisse Freiheiten eingeschränkt wurden.

“Es ist immer noch schwieriger, in der Schweiz ein Bankkonto zu eröffnen als hier”, illustriert er dies.

In gewissem Sinne habe sich 9/11 am stärksten auf das Verhältnis zu Europa ausgewirkt. “Dieses nahm massiv Schaden.”

Auch Vreni Keller fühlt sich nicht gross betroffen. “Grundsätzlich lebe ich heute wieder wie zuvor. Ich fühle mich nicht sicherer, aber auch nicht weniger sicher.”

Auch Keller weist auf die Spannungen mit Europa hin. Wenn sie in der Schweiz sei, werde sie immer etwas angegriffen dafür, in den USA zu leben.

Die wirklich grosse Tragödie, sagt Wuersch, sei, dass das Problem, das zu den Anschlägen führte, auch fünf Jahre danach nicht gelöst worden sei, nicht einmal ansatzweise.

Ground Zero

Zum Ground Zero war Wuersch lange nicht gegangen. “Und der erste Besuch war dann emotional wirklich sehr schwierig gewesen.”

Auch Keller hatte lange zugewartet, bevor sie erstmals zum Ground Zero fuhr.
Und noch heute beschleicht sie ein Gefühl von Trauer, wenn sie daran vorbeifährt.

Und beide bedauern, dass bisher keine wirklich konstruktive Lösung für die Zukunft des brach liegenden Raumes gefunden wurde. “Solange diese offene Wunde da ist, kann die Trauerarbeit nicht abgeschlossen werden”, sagt Wuersch.

Kein Gedanke an Wegzug

Ob New York denn heute eine andere Stadt sei? “Nein”, sagt Wuersch. “Im ersten Jahr nach 9/11 vielleicht – aber heute ist es ‘back to normal’. Die Stadt hat ihre Seele nicht verloren.”

Dachte er je daran, wegzuziehen? “Nein. Das wäre auch ein Sieg für die Terroristen, das mache ich sicher nicht.”

Ganz ähnlich tönt es bei Keller. “Ich lasse mich nicht vertreiben.”

swissinfo, Rita Emch, New York

Daniel A. Wuersch
Geboren 1960, verheiratet mit einer Schweizerin. Das Ehepaar hat von drei Kinder im Alter von 8, 12 und 15 Jahren.
Lebt seit 1991 in den USA.
Präsident Swiss Society of New York seit 2004.

Vreni Keller
Geboren 1951, verheiratet mit einem Schweizer, eine Tochter im Alter von
22 Jahren.
Lebt seit 1983 in den USA, ihr Ehemann seit 1970.

2005 lebten insgesamt 71’773 Schweizer und Schweizerinnen in den USA, davon fast ein Drittel im Grossraum New York.
49’871 der Schweizerinnen und Schweizer sind Doppelbürger.

Fünf Jahre nach den Attentaten vom 11. September 2001, bei denen fast 3000 Menschen umkamen, ist das Leben in New York weitgehend zur Normalität zurückgekehrt.

Doch Ground Zero bleibt bis heute eine Baugrube. Eine Baugrube, an der sich täglich unzählige Touristen aus dem In- und Ausland einfinden.

Noch wird darüber gestritten, wie der Platz wieder bebaut werden soll.

Der Opfer soll mit einem Memorial gedacht werden, soviel ist klar – doch die Details bleiben umstritten.

Daneben sollen neue Gebäude errichtet werden: Einerseits der Freedom Tower
– mit der symbolträchtigen Höhe von 1776 Fuss – in Erinnerung an das Jahr der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Das Fundament wurde im April gelegt.

Wenige Tage vor dem 5. Jahrestag der Attentate wurden die neusten Pläne für drei weitere Wolkenkratzer enthüllt, die in einer Art Spirale um Ground Zero herum errichtet würden.

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