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«51 Jahre lang habe ich Geschirr gemacht, es ist mir nie verleidet»

Yvonne Grieder-Veronesi an der Arbeit
Gelebte Resilienz: Die Hände von Yvonne Grieder-Veronesi machen nicht mehr alles mit. Statt Geschirr formt sie nun eben Tonfiguren, etwa eine Serie von lebensgrossen Laufenten. Vera Leysinger / SWI swissinfo.ch

Yvonne Grieder-Veronesis Leben könnte als eine typische Frauenbiografie ihrer Generation erzählt werden: schwere Kindheit, frühe Ehe, sechs Kinder und dann die jahrelange Pflege des entfremdeten Ehemanns. Stattdessen ist es die Geschichte einer Frau, die am Ende einen Weg gefunden hat zu tun, was sie will.

Ein Altersheim im Zürcher Oberland: Yvonne Grieder-Veronesi empfängt am Eingang und führt im Rollstuhl flink durch die Gänge auf ihr Zimmer – ein Zimmer, das wie ein kleines Museum ausschaut: Überall Kunst, Figuren aus Ton, selbstgemalte Bilder.

Wie lange noch und wozu eigentlich? Mit dem Alter akzentuieren sich fundamentale Lebensfragen. In unserer Serie «Lebenswertes Leben» stellen wir Ihnen Menschen vor, die auch im hohen Alter jedem Tag etwas abgewinnen wollen, und erzählen ihre Lebensgeschichte. Sie lesen die erste Folge.

Natürlich sind da auch Fotos ihrer Familie, aber was als erstes auffällt, ist der grosse Werktisch in der Mitte des Raums, mit Ton, Glasierfarben und Pinseln. «Dass ich von meiner Kunst umgeben bin, dass meine Werkstatt hier in meinem Zimmer ist, das ist mir sehr wichtig», sagt Grieder-Veronesi.

Als sie ins Altersheim zog, sei klar gewesen: «Ich nehme alles mit! Die Töpferei, der Ton, das gehört in mein Leben.» Sie ist hier die Einzige, die ein Atelier im Zimmer hat. «Ich habe gar nicht gefragt», sagt sie, lacht und eine feine, waagrechte Linie erscheint über ihrer Lippe.

Grieder-Veronesi lacht viel. Manchmal senkt sie aber auch den Kopf und schaut zu Boden, die Lippen in einem gutmütigen Halblächeln eingefroren, die Augen traurig. In diesen Momenten erzählt das Schweigen dort weiter, wo sie mit Worten aufgehört hat.


«Ein Mädchen arbeitet nicht mit Ton»

Geboren wurde Grieder-Veronesi in Zürich: «Am neunten Tag ging meine Mutter mit mir nach Hause, am zehnten Tag musste sie mit Fieber ins Spital. Mich setzte der Vater in einen Wagen und bei der ältesten Schwester meiner Mutter ab, dort wuchs ich auf.»

Bei der Familie im Friesenberg war Grieder-Veronesi eines von fünf Pflegekindern. Der Alltag war geprägt von Gewalt und Verboten. «Eine schöne Kindheit war das nicht», sagt sie.

Bereits nach der Schule wollte Grieder-Veronesi in die Kunstgewerbeschule und dort mit Ton arbeiten, doch: «Meine Pflegemutter sagte: Ein Mädchen arbeitet nicht mit Ton, sondern mit Nadel und Faden.»

Grieder-Veronesi musste eine zweijährige Ausbildung zur Modistin absolvieren.

«Ich habe mir immer gesagt, ich mache es anders als ich es selbst erlebt habe.»

Yvonne Grieder-Veronesi

Mit 20 dann, ging sie für eineinhalb Jahre nach Genf. Ihr zukünftiger Mann, Ruedi Grieder, arbeitete damals in Nyon, die beiden lernten sich kennen, verlobten sich und heirateten, als Grieder-Veronesi 22 Jahre alt war.

Mit 23 brachte sie das erste Kind zur Welt. Es folgten fünf weitere: «Ich habe mir immer eine Grossfamilie gewünscht, und ich habe immer gesagt: Ich mache es dann anders, als ich es selbst erlebt habe. Bis heute ist meine Familie alles für mich.»

«Die Schwiegermutter hat mich unaufhörlich geplagt»

Grieder-Veronesi hat 16 Enkelkinder und 9 Urenkel. Der Kontakt ist eng, gerade erst, an ihrem 90. Geburtstag vor wenigen Monaten, kamen alle zu einer grossen Familienfeier zusammen, über 50 Personen.

Dann wird Grieder-Veronesi wieder ernst, wenn sie erzählt, wie sie mit Ende 30 zum Töpfern kam. «Mir ging es damals psychisch sehr schlecht.»

Die Beziehung zu ihrem Mann sei stark geschädigt gewesen, die Freikirche, in die sie hineingeheiratet hatte, war ihr zuwider und zu alldem hätte sie ihre Schwiegermutter unaufhörlich «geplagt», fast täglich ihre Kindererziehung kritisiert, gar damit gedroht, ihr die Kinder wegzunehmen. «Und mein Mann hat immer gemacht, was sie gesagt hat, mich nie in Schutz genommen.»

Yvonne Grieder-Veronesi schaut ein Fotoalbum an
Ausgefülltes Familienleben, schwierige Partnerschaft: Yvonne Grieder-Veronesi blättert in einem Fotoalbum. Vera Leysinger / SWI swissinfo.ch

Mit 39 wurde alles zu viel, es folgte der Zusammenbruch. Im Rahmen der ambulanten Therapie fragte ein Arzt die neue Patientin, was sie am liebsten machen würde, wenn sie frei wählen könnte. Und Grieder-Veronesi antwortete: «Mit Ton arbeiten».

«Daraufhin holte der Arzt Lehm und ich formte daraus einen Schwan, mit einem schönen geschwungenen Hals», erinnert sie sich. Da war es um sie geschehen: «Ich habe zuhause eine Werkstatt eingerichtet und mir Bücher angeschafft, mit 45 Jahren bin ich dann in eine zweijährige Lehre bei einer Meistertöpferin.» Ein «Chrampf» sei das gewesen, fünf Tage die Woche, daneben sechs Kinder, der Haushalt. «Aber ich habe es geschafft.»

Mit 47 begann Grieder-Veronesi Abendkurse in der Kunstgewerbeschule zu besuchen. Mit ihrer Kunst fuhr sie auf Märkte in der ganzen Schweiz, bildete über 30 Jahre lang andere im Handwerk aus.

Heute kommt einmal wöchentlich ein Töpfer ins Altersheim und gibt einen Kurs für die Bewohnerinnen und Bewohner. Er war vor vielen Jahren einmal Grieder-Veronesis Lehrling. Und ihm hatte sie damals, als sie ins Altersheim zog, ihren Brennofen vermacht.

Jeden Freitag nimmt der Mann nun ihre fertigen Stücke mit und bringt sie gebrannt zurück. Es sind andere Stücke als früher:  «51 Jahre lang habe ich Geschirr gemacht, es ist mir nie verleidet.»

«Ich habe es noch geschafft, die Tasse zu zertrümmern»

Am 16. Juni dieses Jahres hat Grieder-Veronesi an einer Teetasse gearbeitet, als auf einmal ihre Hände nicht mehr mitmachen wollten. «Ich habe aufgehört und drei Tage gewartet, aber es kam nur noch schlimmer zurück. Ich merkte, jetzt ist fertig», sagt sie und ergänzt: «Aber ich habe es noch geschafft die Teetasse zu zertrümmern aus lauter Wut.»

Grieder-Veronesi lacht. Jetzt arbeitet sie mehr mit Werkzeugen und weniger direkt mit den Fingern, macht vor allem Figuren. Gerade arbeitet sie an einer Serie von lebensgrossen Laufenten für ihre erwachsenen Kinder.

Der Unterschied zu anderem Heimwerk liegt für sie im Material, es sei der Ton, die Erde, die sie wortwörtlich erden würde. So sei ihr auch immer das Gärtnern sehr wichtig gewesen. Im Altersheim hat sie als einzige der Bewohnenden bis heute ein eigenes Hochbeet.

An ihrer Werkbank arbeitet Grieder-Veronesi meistens abends, oft bis nach 22.00 Uhr. Wenn es still ist im Haus, kann sie gut töpfern und Ruhe finden. Dann hört sie Musik – am liebsten Klassik. Aber nicht nur: «Kurz vor 60 kam einer meiner Söhne und sagte ‹Mama du bist einseitig, wie wäre es mit Volksmusik?› Ich habe reingehört, und es hat mir gut gefallen, also habe ich kurz vor 60 angefangen Schweizerörgeli zu lernen.»

Grieder-Veronesi wurde so gut, dass sie selbst anfing Kinder und Erwachsene zu unterrichten, 14 Jahre lang. «Neben dem Töpfern half mir das Spielen und Unterrichten über viel Negatives hinweg.»

Yvonne Grieder-Veronesis neben ihrem Hochbeet
Grieder-Veronesi ist gerne draussen und beobachtet die Natur oder gärtnert in ihrem Hochbeet. Vera Leysinger / SWI swissinfo.ch

«Ich habe immer gehofft, du stirbst vor mir»

Kurz vor Grieder-Veronesis 65-jährigem Geburtstag zieht die Familie auf einen Bauernhof im Toggenburg, ihr Mann hätte noch einen eigenen Hof haben wollen. Sie fühlte sich einsam «dort oben», abgeschieden und eingesperrt. Sie sagt: «Ich habe es gehasst, dort zu sein.»

In dieser Zeit entstand eine Serie von Tonkrügen, die noch heute ihr Zimmer schmücken. Sie sind von Ketten umgeben, von Stacheldraht, einer trägt ein Schloss und einer einen Schlüssel, der nicht passt.

Als Grieder-Veronesi 73 ist, wird bei ihrem Mann eine Asbestlunge diagnostiziert. Sie entscheidet sich, ihn zu pflegen – nicht mehr aus Liebe, aber aus Verantwortungsgefühl. «Es war hart. Er hat sich widersetzt», erzählt sie.

An einem Heiligabend, als sein Zustand rapide schlechter wurde, hätte Ruedi Grieder zu seiner Frau gesagt: «Weisst du, ich habe immer gehofft, du stirbst vor mir.» Kurz darauf verstarb er zuhause.

«Ich habe den Fehler immer bei mir gesucht, für alles.»

Yvonne Grieder-Veronesi

«Es hat mich jahrelang beschäftigt, dass das alles so passiert ist», sagt Grieder-Veronesi heute. «Ich habe immer den Fehler bei mir gesucht, für alles.» Ein weiteres Mal fand sie Trost im Ton. «Goethe hat geschrieben, dass man die Steine, die einem in den Weg gelegt werden, dazu gebrauchen solle, was Schönes zu bauen. Also machte ich Steine aus Ton, 60 Stück insgesamt, von ganz klein bis ganz gross.»

Einzelne davon dekorieren heute ihr Zimmer. Sie sagt: «So fand ich schliesslich Frieden.»

Nach dem Tod ihres Ehemannes zieht Grieder-Veronesi ins Altersheim. Zehn Jahre ist das her. Es sei die richtige Entscheidung gewesen, sagt sie. Auch wenn sie vieles zurücklassen musste.

«Die drei schönsten Jahre meines Lebens»

Als sie nur wenige Monate in ihrem neuen Zuhause ist, begegnet sie auf dem Gang einem Mann mit einem Rollator. «Er war neu eingezogen, kam auf mich zu und sagte: ‹Wir kennen uns.› Ich schaute ihn an und antwortete, ‹ja, aber ich weiss nicht woher›.»

Es sei eine Seelenverwandtschaft gewesen – und Liebe auf den ersten Blick. Erwin Nowak war früher Solobassist im Opernhaus und in der Tonhalle, neben seinem Beruf war er als Maler und Kunstbildhauer tätig, die beiden hätten sich perfekt ergänzt.

«Wir waren über 80, als wir uns verlobten. Wir haben es so genossen», sagt Grieder-Veronesi und lächelt. «Das waren die drei schönsten Jahre meines Lebens». Ihre Familie hätte glücklich reagiert, bis heute sage ihr ältester Sohn manchmal noch, dass ihn Nowaks Humor fasziniert habe. «Ich hätte niemals damit gerechnet, dass ich mich in meinem Leben noch einmal so verliebte, aber es war passiert. Erwin war so ein feiner, so ein guter Mensch.»

Frau im Rollstuhl von hinten fährt draussen auf einem Weg
Das Leben von Yvonne Grieder-Veronesi bleibt spannend. Sie ist immer offen dafür, etwas Neues zu lernen. Vera Leysinger / SWI swissinfo.ch

Er verstarb 2018. Grieder-Veronesi fertigte einen grossen weissen Grabstein für ihn an. Jede Stufe stellt eine Etappe im Leben ihres Verlobten dar. Er steht jetzt auf ihrem Arbeitstisch in der Mitte des Zimmers.

«Ich habe gefragt, warum mich alle mit Namen grüssen»

Eines von Erwins Bildern hängt an ihrer Zimmerwand, es zeigt eine Vase mit Blumen. Daneben hängt eine grosse Fotografie ihres Ehemannes mit einer Herde von Schafen, aufgenommen im Toggenburg. Wie so gut wie alles in diesem Zimmer, erzählen auch diese beiden Bilder in ihrer Widersprüchlichkeit Grieder-Veronesis Geschichte.

«Ich habe einen der Pfleger mal gefragt, warum mich hier alle im Haus mit Namen grüssen würden, obwohl ich die meisten ja nicht kenne», erzählt sie. «Nach einigem Zögern sagte der Pfleger dann: ‹Sie sind hier eben bekannt dafür, dass sie immer machen, was sie wollen›.»

Ruedi Grieder liegt, genau wie Erwin Nowak in der Nähe des Heimes begraben, in dem Grieder-Veronesi lebt. Lange dachte sie, sie würde irgendwann in demselben Grab ruhen wie ihr Ehemann, wie es die Tradition eben vorgibt. «Doch das ist mir zu eng. Ich will, dass meine Asche, wenn es denn so weit ist, mit Blick auf die Berge verstreut wird. Dann werde ich selbst zu Erde.»

Editiert von Marc Leutenegger

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