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Mehr Wohltätigkeit, weniger Wohlfahrt

Forschen im Mikro- und Nanobereich. Im Wissenschaftsbereich stammt viel Geld von Privatstiftungen. Keystone

In Europa gewinnt der Gedanke an Boden, mit dem Geld aus Stiftungen Teile der Aufgaben des Wohlfahrtsstaates zu finanzieren.

Der Tendenz nach stellt man in der Schweiz ein Wachstum dieser den Staat ergänzenden Aktivitäten fest. Aber konkrete Statistiken fehlen.

In grossen Teilen Europas befindet sich gegenwärtig ein besonders diskreter Wirtschafts-Zweig in Bewegung: Das Stiftungswesen. Bemühungen um Gesetzesrevisionen in zahlreichen Ländern wollen das Spenden attraktiver gestalten.

Stiftungsrechts-Revision im Ständerat



Auch in der Schweiz versucht man seit vielen Jahren, das seit 1911 geltende Stiftungsgesetz der Gegenwart anzupassen. Mit steuerlichen Anreizen soll gemäss Revisionsvorschlag das Spenden an Stiftungen erleichtert werden.

Am 18. Dezember hat der Ständerat als Erstrat eine Erhöhung der abzugsfähigen Zuwendungen bei der Bundessteuer beschlossen: von bisher 10% auf 20% des Reineinkommens der Spendenden.

Was jedoch weiterhin fehle, so tönt es unisono aus der Stiftungs- und Wohltätigkeits-Branche, seien genügend Statistiken. Denn wer wie viel spendet und in welche Bereiche die Stiftungen primär ihren Geldsegen stecken, weiss man nicht.

«Offenbar hat das Stiftungswesen momentan im Bundesamt für Statistik (BFS) nicht die höchste Prioritätsstufe», sagt Georg von Schnurbein, Mitautor einer im November erschienenen Länderstudie über das Stiftungs- und Wohltätigkeitswesen in der Schweiz (Verbandsmanagement Institut VMI an der Universität Freiburg).

Die Auswirkungen der laufenden Gesetzesrevision sind deshalb vorläufig nur schlecht abschätzbar. Michael Riemer, Professor für Zivilrecht an der Uni Zürich, sagt gegenüber swissinfo: «Die Revision wird in der Schweiz zivilrechtlich kaum einen grossen Boom an neuen Stiftungsgründungen auslösen.»

Für den Stiftungsspezialisten Riemer ist es zudem schwer vorauszusehen, ob die neuen steuerrechtlichen Zugeständnisse genügend Anreiz für zusätzliche Spenden oder neue Stiftungsgründungen schaffen.

Philantropie: Ergänzt oder ersetzt sie den Staat?

Dabei gewinnt die Stiftungs-Branche in ganz Europa an Bedeutung. «Der moderne Wohlfahrtsstaat gerät bei der Bereitstellung von öffentlichen Gütern immer mehr in finanzielle Schwierigkeiten», ist denn auch bereits im Vorwort der Länderstudie zu lesen.

Wohltätigkeit, Forschung, Kultur oder auch Gesundheitswesen: Viele staatliche Aufgaben werden durch die Aktivitäten von Stiftungen ergänzt, ersetzt oder sonst wie unterstützt.

«Die Tendenz, dass Stiftungen vermehrt aktiv werden, lässt sich bestätigen», formuliert von Schnurbein vorsichtig aufgrund der in der Schweiz so raren Daten, «doch sie wirken vermehrt ergänzend, und wollen nicht staatliche Ausgaben an sich ersetzen».

Es liege in der Natur des Staates, dass er eher breitgestreut fördere. Deshalb fördern Stiftungen eher punktuell, und «bemühen sich, dies auf eine innovative Art und Weise zu tun», so von Schnurbein.

«Stiftungsaktivitäten waren immer schon ergänzend», sagt auch der Leiter der Eidgenössischen Stiftungsaufsicht, Bruno Ferrari-Visca, gegenüber swissinfo. «Wenn sich der Staat zurückziehen muss, weil die Mittel fehlen, dann können Stiftungen einspringen.» Doch wie weit dies gegenwärtig effektiv der Fall sei, ist auch für Ferrari schwierig abzuschätzen.

Zumindest stellt Ferrari «tendenziell seit rund acht Jahren eine ständige Zunahme von Stiftungen mit internationalem und nationalem Zweck fest – generell in allen Bereichen, speziell aber beim Sozialen, in der Forschung und der Kultur».

Stiftungen springen nicht nur als Ersatz-Vehikel ein

Bekannt ist etwa der Fall des Schweizer Landesmuseums, einer Institution des Bundesamtes für Kultur, das sich gegenwärtig bemüht, eine Stiftung zu werden, um sich etwas vom Staat zu lösen. «Aber Achtung», warnt Benno Schubiger, Präsident von swissfoundations, «da wechselt man einfach die Gefahrenzone. Denn es ist aufwändig, zu anderen Geldquellen zu kommen».

Offenbar geht es also bei den Stiftungen nicht bloss um den Ersatz dessen, was der Sozialstaat nicht mehr vermag. Oft springen Stiftungen ein, wenn es der staatlichen Verwaltung an Know-How mangelt, oder wenn das Milizparlament schlicht die gesellschaftlichen Trends verpasst.

Als klassischer Fall gilt hier die Familienpolitik in der Schweiz, wo die Stiftung «Pro Juventute» seit bald 30 Jahren staatliche Aufgaben übernimmt – zum Beispiel die Organisation der familienexternen Kinderbetreuung. Doch Pro Juventute ist eine öffentlich-rechtliche Stiftung, und deshalb eine Art «Outsourcing-Vehikel» der öffentlichen Verwaltung. «Ob jedoch Pro Juventute in den letzten Jahren gegenüber früher verstärkt einspringen musste, lässt sich ohne Zahlen nicht belegen», relativiert von Schnurbein.

Andererseits werde manchmal auch versucht, mit Stiftungen die Staatsbürokratie zu umgehen, oder gar direkt- oder basisdemokratische Unvorhersehbarkeiten auszuklammern, bestätigt der Studienautor.

Unternehmer als besondere Gattung Mensch

Schubiger weist auf eine weitere Charakteristik hin, die das Verhältnis der Vergabe-Stiftungen zum Staat kennzeichnen: Viele vermögende Unternehmer und reiche Privatinvestoren, die Stiftungen ins Leben rufen, seien oft von einer nachhaltigen Skepsis geprägt, was den Staat betrifft.

Als typisches Beispiel nennt Schubiger Heinrich Gebert von der Gebert Rüf Stiftung. «Gebert hätte sein Geld auch direkt dem Staat geben können, was er aber nicht wollte. Er fürchtete sich wohl, dass zuviel Mittel in der Administration versickern würden.»

Denn er habe ganz genaue Vorstellungen über den Zweck gehabt, nämlich angewandte Forschung zu unterstützen. Die klaren Vorstellungen eines Gründers sind allgemein häufig die Grundlage einer Stiftung.

Deshalb, so Schubiger, sei fast jede Stiftung ein Spezialfall für sich – ein Umstand, der weder im vorhandenen Datenmaterial noch bei der Aufbereitung von Vergleichsstatistiken ersichtlich werde.

Seit 1950 ist die Anzahl klassischer Stiftungen in der Schweiz stetig gestiegen. 1912 waren gemäss dem Bundesamt für Statistik (BFS) rund 200 Stiftungen registriert. Ab 1941 stieg die Wachstumskurve steil: 1868 wurden registriert, 1955 waren es 2405, 1992 waren es 8667, und 2002 bereits 10’914 (Zahlen immer ohne Personalvorsorge-Stiftungen). Das BFS geht für 2002 erstmals von einem Abflachen des Anstiegs aus.

Die Schweiz zeichnet sich durch eine «ausgesprochene Stiftungsfreudigkeit» aus, sagt Michael Riemer. Beim Stiftungsvermögen pro Kopf gerechnet liegt die Schweiz in der Kategorie «1500 Franken und mehr». Zum Vergleich: 800 Franken sind es in Grossbritannien, 530 in Deutschland. Geschätzt wird das Stiftungsvermögen, das in der Schweiz liegt, auf rund 30 Milliarden Franken.

swissinfo, Alexander Künzle

Das Stiftungswesen ist in ganz Europa in Bewegung. Der Ruf nach mehr Transparenz wird mit einer effektiveren Kontrolle gekoppelt.
Kontrolle erstens durch die Stiftungen selber, was genau mit ihren Donationen geschieht (rigorose Richtlinien).
Zweitens eine standardisierte Revision der Stiftungsvermögen und des Stiftungsgebarens.
Man erhofft sich, durch eine attraktivere Ausgestaltung des Spendens den Stiftungen mehr Geld zuzuführen.
Das Manko an Daten und Statistiken verhindert eine Abschätzung des Effekts eines modernisierten Stiftungsgesetzes auf die Branche.

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