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Millionen von «Verschwundenen» weltweit

Die Mütter der 'Plaza de Mayo' brachten das Thema der Verschwundenen ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Keystone

Das Schicksal von Vermissten, die während Konflikten verschleppt wurden oder verschwanden, steht im Zentrum einer Konferenz des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in Genf.

Die humanitäre Organisation will Regierungen, Militärs und Öffentlichkeit für diese Tragödien sensibilisieren.

Kein Konflikt, kein Krieg, in dem nicht Menschen verschwinden oder verschleppt werden. Wie viele es weltweit wirklich sind, kann jedoch niemand sagen. Allein im 20. Jahrhundert gab es nach IKRK-Angaben Millionen solcher Fälle.

Zeichen setzen gegen Resignation

Das Treffen diese Woche soll ein Zeichen setzen, gegen die Resignation und die Banalisierung des Themas. Bei einem Grossteil der Verschwundenen handelt es sich um Zivilpersonen. Dazu kommen Soldaten oder andere Kämpfer sowie Menschen, die von politischen Machthabern festgenommen wurden – und nie wieder auftauchten.

In Genf will man nun versuchen, Gegensteuer zu geben, damit die Zahl der Verschwundenen in künftigen Konflikten nicht noch mehr ansteigt. Zum Auftakt der Konferenz rief IKRK-Präsident Jakob Kellenberger Regierungen und weitere Akteure zu wirksamen Schritten auf.

Die erste Massnahme sei die Einhaltung des Völkerrechts und der nationalen Gesetze, sagte Kellenberger. Das humanitäre Völkerrecht legt die Richtlinien für alle beteiligten Parteien in einem Konflikt eigentlich fest, doch mit der Umsetzung hapert es.

Schicksal der Hinterbliebenen

Ein konkretes Problem sind nicht identifizierte Leichen von Soldaten oder andern Kämpfern auf dem Schlachtfeld oder in Massengräbern, auch wenn viele der Verschwundenen Zivilisten sind.

Beim IKRK verweist man darauf, dass es viele Armeen oder Rebellengruppen gibt, deren Soldaten keine Identitäts-Plaketten tragen, womit die Identifizierung fast unmöglich wird. Zivile Opfer tragen in vielen Fällen keine Ausweise auf sich. Die Familien der Verschollenen haben dann kaum eine Chance, die Wahrheit zu erfahren über das Schicksal ihrer Angehörigen.

Die Konferenz in Genf stützt sich auf zweijährige intensive Vorarbeit. Erörtert werden sollen vor allem das Schicksal der Vermissten und die tragischen Konsequenzen für die Familien und Freunde. Diese hegen oft während langen Jahren die vergebliche Hoffnung, dass Verschollene wieder auftauchen.

Mütter machen sich stark

Die «Mütter der Plaza de Mayo» in Argentinien machten in den 80er Jahren das Thema einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Sie wollten endlich Gewissheit haben über das Schicksal ihrer Söhne und Töchter, die während der Diktatur verschwanden.

Solange das Schicksal der Vermissten nicht geklärt ist, können die Angehörigen keine wirkliche Trauerarbeit leisten. Und können damit – auch nach dem Ende eines Konflikts – nicht zum normalen Leben zurückfinden, wie Danielle Coquoz, Leiterin des IKRK-Suchdienstes, erklärt.

Diese Problematik sprach auch Visaka Dharmadasa aus Sri Lanka an. Sie ist die Präsidentin einer Vereinigung von Familien, deren Angehörige verschwunden sind. Die Zahl der Vermissten in Sri Lanka wird auf etwa 8000 geschätzt. Visaka Dharmadasas Sohn ist einer der Verschollenen.

«Das Trauma der Familien kann kaum in Worte gefasst werden». Wenn es gelinge, die Zahl der nicht identifizierten Toten zu verringern, hätte man schon einen grossen Schritt gemacht.

Menschenwürde in Frage gestellt

Auch die Schweiz ist an der Konferenz in Genf vertreten. «Es ist der Schweiz ein Anliegen, dass dieses tragische Thema vermehrt thematisiert und ans Licht gebracht wird. Die Würde des Menschen gilt es auch in diesem Bereich zu schützen», erklärt Arthur Mattli von der Direktion für Völkerrecht im Schweizer Aussenministerium (EDA) gegenüber swissinfo.

«Das humanitäre Völkerrecht, die Menschenrechte überhaupt, sind traditionelle Anliegen der Schweizer Aussenpolitik, sie ist in solchen Fragen eine Expertin und zudem die ‹Hüterin› der Genfer Konventionen.»

Prävention wichtig

Entwürfe für Gesetzestexte erwartet Mattli, der zur Schweizer Delegation gehört, nicht. Es sei eine praxisorientierte Konferenz. «Unter anderem wollen wir darüber sprechen, wie die Folgen des Verschwindens mit besserer Prävention abgefedert werden können.»

Der Schweizer UNO-Botschafter in Genf, Jean-Marc Boulgaris, sagte vor den Konferenzteilnehmern, der Respekt der Menschenwürde sei der beste Schutz vor dem Phänomen von Verschwundenen.

Er erinnerte auch daran, dass eine Arbeitsgruppe der UNO-Menschenrechts-Kommission daran ist, rechtliche Normen im Zusammenhang mit dem erzwungenen Verschwinden von Menschen zu erarbeiten.

Jugoslawien, Ruanda, Kongo, Lateinamerika



Zu den Millionen Menschen, die im 20. Jahrhundert verschwanden, gehören die über 22’000 Verschwundenen aus den Konflikten im ehemaligen Jugoslawien, Hunderttausende in Ruanda und Kongo-Kinshasa. In die Zehntausende gehen die Vermisstenzahlen aus dem Iran, aus Irak, Äthiopien, Eritrea, Liberia oder Guatemala.

In Kambodscha wissen Millionen von Menschen noch heute nichts über den Verbleib ihrer Angehörigen, die in der Zeit der Schreckensherrschaft von Pol Pot verschwanden. Ungeklärt bleibt auch das Schicksal Tausender von Menschen in Lateinamerika. Betroffen sind vor allem Argentinien, Chile, San Salvador. In Peru wird die Zahl der «Verschwundenen» mit rund 6000 angegeben.

swissinfo, Rita Emch

An der Konferenz nehmen rund 350 Teilnehmer und Teilnehmerinnen aus 90 Ländern teil.

Dazu gehören juristische, wissenschaftliche und militärische Fachleute, Vertreter der UNO, der Rot-Kreuz- und Rot-Halbmond-Bewegung sowie Delegationen von Vereinigungen von Angehörigen.

Die Konferenz stützt sich auf eine zweijährige intensive Vorarbeit.

Weltweit verschwanden im 20. Jahrhundert Millionen von Menschen.
Einige Beispiele:
100’000 in Ruanda und Kongo-Kinshasa
22’000 im ehemaligen Jugoslawien
8000 in Sri Lanka
6000 in Peru

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