Mit High-Tech gegen Sexual- und Gewaltverbrecher
Die Schweizer Polizei schliesst sich dem Datenerfassungssystem ViCLAS an. Es handelt sich um eine neue Waffe im Kampf gegen Sexual- und Gewaltverbrechen.
Die Fälle Dutroux und Fourniret zeigen, wie wichtig es ist, die Lücken beim internationalen Informationsaustausch zwischen den Ermittlungsbehörden zu schliessen.
Nach der Einführung einer DNA-Datenbank zur Erfassung genetischen Erbmaterials potentieller Straftäter arbeitet die Polizei jetzt an einem Datenerfassungssystem, das durch die Sammlung von Details zu Gewaltverbrechen den Tätern auf die Spur kommen soll.
ViCLAS (Violent Crime Linkage Analysis System) ist ein Datenerfassungssystem, das den Ermittlungsbehörden vor allem bei der Untersuchung von Sexual- und Serienstraftaten zur Hand geht. Es ist eine Datei für Tatortinformationen.
Ob Vergewaltigungen, sexuell motivierte Mordtaten, verschwundene Personen oder nichtidentifizierte Opfer von Gewaltverbrechen: Seit letztem Jahr werden all diese Fälle von 15 hochspezialisierten Polizisten minutiös erfasst.
Auf der Grundlage eines Erhebungsbogens mit 168 Fragen wird jedes Detail einer Straftat in den Computer eingegeben. Dies geschieht entweder am ViCLAS-Hauptsitz bei der Kantonspolizei Bern oder bei den Aussenstellen in Freiburg, Luzern, Zürich oder St.Gallen.
Bisher wurden bereits 500 Fälle in dieser Art und Weise erfasst. Innerhalb weniger Jahre werden Tausende von Daten gespeichert sein, die sicherlich erste Fahndungserfolge ermöglichen.
Die Handschrift des Verbrechens
«Neben Informationen und Zeugenaussagen zu einem einzelnen Verbrechen erlaubt ViCLAS mögliche Zusammenhänge zwischen Verbrechen in verschiedenen, möglicherweise weit entfernten Regionen herzustellen», sagt Rico Galli von der Berner Kantonspolizei.
Die Datenbank wird als wichtiges Mittel für die Ermittlungsbehörden gesehen, um besonders gefährliche Sexualstraftäter wie etwa Marc Dutroux und Michel Fourniret zu stellen. Diese Fälle stellen besonders komplizierte Knacknüsse für Polizei und Staatsanwaltschaft dar.
Während es bei klassischen Mordfällen zumeist in irgendeiner Weise ein Verhältnis zwischen Täter und Opfer gibt – Wirtschaftsinteressen, Rache oder Eifersucht -, werden Serienstraftäter durch innere Triebe gesteuert. Sie wählen deshalb ihre Opfer meist wahllos aus.
Um diesen Tätern auf die Schliche zu kommen, bleibt den Ermittlern meist keine andere Wahl, als Bezüge zwischen mehreren Gewalt- beziehungsweise Sexualverbrechen herzustellen.
«Jedes Sexualverbrechen hinterlässt eine Art Handschrift. Das heisst, die Art und Weise, wie das Verbrechen begangen wurde. Deshalb muss man die Handschriften analysieren und vergleichen», hält der Psychiater Frank Urbaniok fest. Er ist Experte für Sexual- und Gewaltstraftäter und Chefpsychiater des psychologisch-psychiatrischen Dienstes des Zürcher Amtes für Justizvollzug.
Häufig Wiederholungstäter
ViCLAS geht auch von der Erkenntnis aus, dass Sexualstraftäter häufig Wiederholungstäter sind. Diese Tendenz lässt sich insbesondere bei Pädophilen feststellen.
Dutroux und Fourniret waren beispielsweise schon für kleinere Delikte im Gefängnis gesessen, und dies einige Jahre, bevor sie ihre grauenhaften Gewaltverbrechen begingen.
«Mehr als die Hälfte der Sexualverbrecher ist der Polizei in irgendeiner Weise bekannt. Häufig durch andere Straftaten, die sie vorher begangen haben», hält Rico Galli fest.
«Fälle von ganz normalen Leuten, die plötzlich zu Serienmörder werden, sind ein Ammenmärchen der Medien und des Fernsehens», meint Urbaniok.
«Wenn wir die Biographien von Sexualstraftätern analysieren, stellen wir häufig fest, dass sie vor den Sexualverbrechen durch andere Straftaten aufgefallen sind», fügt der Psychiater an.
Das Datenerfassungssystem ViCLAS könnte somit in Zukunft nicht nur zur Fahndung nach Tätern eingesetzt werden, sondern auch, um den Gefährlichkeitsgrad eines einzelnen Täters zu ermitteln. Dadurch liesse sich vermeiden, dass diese allzu früh wieder auf freien Fuss gesetzt werden.
Mangel an Zusammenarbeit
Die Datenbank ermöglicht darüber hinaus eine enge Zusammenarbeit beziehungsweise einen Informationsaustausch zwischen den 26 kantonalen Polizeien in der Schweiz. Und natürlich einen Austausch mit den Ermittlungsbehörden anderer europäischer Länder.
Während die Arbeit der Ermittler heute häufig noch an den Hürden nationalstaatlicher Grenzen scheitert, kennt das Verbrechen keine Grenzen, wie der Fall Fourniret erneut aufgezeigt hat.
Der Pädo-Kriminelle konnte so seine schrecklichen Schandtaten in Belgien ausführen, da die belgische Polizei seine in Frankreich begangenen Delikte und Vorstrafen nicht kannte. Die Fälle Dutroux und Fourniret haben diverse europäische Länder dazu veranlasst, erneut die Einrichtung eines gemeinsamen europäischen Strafregisters zu verlangen.
Durch den Beitritt zum Schengen-Abkommen könnte die Schweiz Zugang zu diesem Strafregister erhalten. Doch zuvor muss die Eidgenossenschaft noch die Hürden ihres föderalistischen Systems nehmen. Sexualdelikte gehören bis anhin in die Kompetenz der Kantone und nicht der Bundespolizei.
«Lücken im Informationsaustausch, wie sie offenbar im Fall Fourniret zwischen Frankreich und Belgien vorgekommen sind, könnten auch in der Schweiz in der Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Kantonen passieren», hält Daniel Laubscher vom Bundesamt für Statistik fest.
Bisher gibt es nicht einmal eine nationale Statistik zu ungeklärten Sexualdelikten. Dieser Mangel könnte bald behoben werden – dank ViCLAS.
swissinfo, Armando Mombelli
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
1989: Michel Peiry in der Schweiz wegen Ermordung von fünf jungen Menschen zu lebenslanger Haft verurteilt
1995: Der Schweizer Werner Ferrari wegen Mord an fünf Kindern zu lebenslänglicher Haft verurteilt
2004: Kurz nach Ende des Prozesses gegen den Belgier Marc Dutroux gesteht der Franzose Michel Fourniret die Ermordung von mindestens 10 Menschen
Das Datenerfassungssystem ViCLAS (Violent Crime Linkage Analysis System) ist bereits vor einigen Jahren von der Polizei in Kanada eingeführt worden.
ViCLAS speichert jedes noch so winzige Detail eines Gewaltverbrechens. Der Datenspeicher ermöglicht eine präzise Verschlagwortung individueller Merkmale eines Tatherganges. Es soll helfen, Serienstraftäter zu erkennen.
Nach ersten positiven Erfahrungen wird die Datenbank nun auch in Deutschland, Schweden, Holland und der Schweiz eingeführt.
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