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Mordprozess gegen Bündner «Öko-Terroristen»

Marco Camenisch: Unverstandener Held oder gemeiner Terrorist? Keystone

Marco Camenisch soll in seinem Bündner Heimatdorf einen Zöllner ermordet haben. Beim Prozess in Zürich, der diese Woche begann, wies er jegliche Schuld an dieser Tat zurück.

Anschläge auf Elektro-Anlagen machten ihn in den 80er-Jahren zum Idol militanter Aktivisten und später der Globalisierungs-Kritiker.

Die «Hinrichtung eines wehrlosen Opfers» wirft Staatsanwalt Ulrich Weder Camenisch in der Anklageschrift vor. Er will den Geschworenen in den nächsten vier Wochen beweisen, dass der heute 52-jährige Angeklagte am 3. Dezember 1989 in seinem Heimatdorf Brusio im Puschlav auf der Flucht den Grenzwächter Kurt Moser erschoss, weil dieser ihn kontrollieren wollte.

Marco Camenisch verweigerte bei Prozessbeginn in Zürich sämtliche Angaben, die über seine persönlichen Daten hinausgingen. Die Anklagepunkte Mord und Mordversuch wies der Angeklagte von sich.

«Versuchter Mord» bei Gefängnisausbruch?

Zweitens wirft Weder Camenisch «versuchten Mord» vor. Es geht dabei um eine gewalttätige Flucht aus der Kantonalzürcher Strafanstalt Regensdorf im Jahr 1981. Beim Ausbruch wurden ein Aufseher getötet und ein zweiter schwer verletzt.

Der Staatsanwalt liess allerdings die Mordklage gegen Camenisch wieder fallen. Er konnte nicht beweisen, dass Camenisch beim Ausbruch wusste, dass seine Mittäter Waffen hatten. Er habe aber während des Ausbruchs, bei dem er wohl eine Art Mitläufer war, zumindest in Kauf genommen, dass durch die Schiesserei ein Aufseher getötet werden könnte, begründet Weder die Anklage wegen Mordversuchs.

Schwierige Ausgangslage

Der Prozess findet in Zürich statt, weil die beiden Anklagepunkte, die Camenisch bestreitet, im Prozess vereinigt wurden.

Die lange zurückliegenden Taten machen das Geschworenen-Verfahren schwierig, wie Gerichtsschreiber Paul Iten einräumt: Die Zeugen sagen hier im Gerichtssaal aus.

Von Zeugen, die nicht mehr erreicht werden konnten oder gestorben sind, können vor Gericht nur Einvernahme-Protokolle verlesen werden.

Symbol militanter Jugendlicher

Dass Camenisch wegen der lange zurückliegenden Verbrechen erst jetzt vor Gericht kommt, hängt mit seiner langjährigen Flucht und seiner Zeit im Gefängnis zusammen. Aber auch mit seiner als abenteuerlich zu bezeichnenden Laufbahn als Sprengstoff-Delinquent im Heimatkanton Graubünden. Sie liess ihn schon während den 80er-Jugendunruhen zum Idol von linken Aktivisten und später der Globalisierungs-Kritiker werden.

Bei Kundgebungen militanter Jugendlicher gegen Staat und Kapitalismus wird er denn auch immer wieder als «Freiheitskämpfer» gefeiert. Mit Signalen aus dem Gefängnis und Hungerstreiks verstand es Camenisch stets, sich bei seinen Anhängern in Erinnerung zu rufen. Deshalb wird der Prozess von rigorosen Sicherheits-Vorkehrungen begleitet.

Als «tragischen Helden» bezeichnet der Churer Filmemacher Daniel von Aarburg Marco Camenisch in einem 2002 realisierten Dokumentarfilm. «Wir wollten gegen die Zerstörung eines Naturgebietes, die Kolonisierung einer ganzen Region durch die Nordostschweizerischen Kraftwerke (NOK) und gegen die Unterwürfigkeit der lokalen Behörden protestieren», erzählt Camenisch in dem Film.

Militanter AKW-Gegner

Seinen Ruf als Öko-Terroristen begründete Camenisch Ende der 70er-Jahre als militanter Kämpfer gegen Atom- und neue Wasserkraftwerke in Graubünden. Wegen zwei Sprengstoff-Anschlägen mit Schäden in Millionenhöhe wurde er 1981 vom Kantonsgericht Graubünden zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt.

Im gleichen Jahr gelang ihm aber die Flucht aus der Strafanstalt Regensdorf. Danach tauchte er unter. Erst 1991 wurde er in der Toskana festgenommen. Der Verhaftung ging ein Schusswechsel mit der Polizei voraus, bei der ein Carabiniere verletzt wurde.

Wegen fahrlässiger Körperverletzung und Sprengstoff-Anschlägen auf Strommasten wurde er in Italien zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt. 2002 wurde er dann nach verbüsster Strafe in die Schweiz ausgeschafft, wo die nicht verbüsste Gefängnisstrafe und die neuen Strafverfahren warteten.

«Politischer Gefangener»

Die Urteilsverkündung wird am 4. Juni erwartet. Wenn Camenisch schuldig gesprochen wird, riskiert er eine zehnjährige oder gar lebenslängliche Gefängnisstrafe.

Verteidigt wird der Angeklagte vom Zürcher Rechtsanwalt Bernard Rambert. «Marco wurde in der Schweiz schon zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt – eine viel zu harte Strafe», sagt Andrea Stauffacher, Sprecherin der Anwaltskanzlei Rambert, gegenüber swissinfo. «Mit diesem Urteil ist er für die Aktionen der gesamten Anti-AKW-Bewegung bestraft und in einen Konflikt mit dem Staat, dem kapitalistischen System gedrängt worden.»

Für Stauffacher ist Camenisch «ein politischer Gefangener, ein Revolutionär, ein Anarchist, ein Umweltschützer». Er habe seine politische Vergangenheit und seine politische Identität nie verleugnet. Aber er dürfe nicht als Autor der Anschläge beschuldigt werden, wie das die italienischen Medien zu tun versucht hätten.

Ob Camenisch einzelne Fragen des Richters überhaupt beantworten wird, ist zumindest fraglich. Er lehnt das Gericht als «Herrschafts- und Repressionsapparat» ab.

swissinfo und Agenturen

1979: Marco Camenisch (geb. 1952 in Brusio GR) verübt Sprengstoff-Anschläge auf Anlagen der Nordostschweizerischen Kraftwerke (NOK).

1981: Das Bündner Kantonsgericht verurteilt Camenisch dafür zu 10 Jahren Zuchthaus.

1981: Ausbruch zusammen mit anderen Häftlingen aus dem Kantonalzürcher Gefängnis Regensdorf, dabei werden ein Aufseher getötet und ein weiterer verletzt.

1989: Camenisch wird verdächtigt, an der schweizerisch-italienischen Grenze im Puschlav einen Zöllner ermordet zu haben.

1991: Festnahme in der Toskana, dabei wurde ein Polizist bei einem Schusswechsel verletzt.

1993: Wegen Sprengstoff-Anschlägen und fahrlässiger Körperverletzung von einem italienischen Gericht zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt.

2002: Camenisch wird von Italien an die Schweiz ausgeliefert.

2004: Prozess in Zürich wegen Mordes und Mordversuch.

Der so genannte Ökoterrorist Marco Camenisch steht ab nächstem Montag vor dem Zürcher Geschworenen-Gericht.

Der heute 52-Jährige ist des Mordversuchs und des Mordes angeklagt. Es geht um einen gewaltsamen Ausbruch aus der Strafanstalt Regensdorf (ZH) von 1981 und den Zöllnermord in Brusio (GR) von 1989. Die Taten hatten seinerzeit grosses Aufsehen erregt.

1981 verbüsste Camenisch in Regensdorf eine zehnjährige Zuchthausstrafe, die das Bündner Kantonsgericht wegen Sprengstoff-Anschlägen auf Elektrizitätsanlagen von Anfang 1980 sowie weiteren Delikten gegen ihn verhängt hatte.

Falls Camenisch in Zürich schuldig gesprochen wird, riskiert er eine zehnjährige oder lebenslängliche Gefängnisstrafe.

Die Urteilsverkündung wird auf Anfang Juni erwartet.

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