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Nach erstem Sarco-Einsatz: Reguliert die Schweiz jetzt die Suizidhilfe neu?

Die Kuppel des Bundeshauses in Bern.
Im Zweifelsfall ist die Schweiz liberal, auch im Verhältnis zum eigenen Tod. Nach dem ersten Einsatz der Suizidkapsel-Sarco steht sie vor der Frage, ob es in der Suizidhilfe mehr Regulierung braucht. Keystone / Thomas Hodel

Der erste Todesfall in der Sarco-Kapsel hat die Debatte um die Regulierung der Suizidhilfe in der Schweiz neu lanciert. Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Der erste Suizid in der Sarco-Kapsel fand letzten September in einem Waldstück im Kanton Schaffhausen nahe der deutschen Grenze statt.

Die Sterbewillige, eine 64-jährige US-Amerikanerin, die an einer Immunkrankheit litt, erläuterte in einer Videoaufzeichnung kurz die Motive für ihren Freitod, setzte sich in die Kapsel, und drückte, als das System bereit war, ohne Umschweife auf den Knopf. Wenige Minuten später war sie tot.

So schilderte es später eine Fotografin der holländischen Zeitung «Volkskrant», die dem Suizid zusammen mit Mitgliedern der Sterbehilfeorganisation The Last Resort beigewohnt hatte.

Philipp Nitschke, Stebehilfeaktivist und Erfinder der Kapsel, verfolgte das Geschehen von Deutschland aus. Er entging so – anders als die vor Ort Anwesenden einer Verhaftung.

Der Kanton Schaffhausen hatte bereits Mitte Jahr deutlich gemacht, dass ein Einsatz der Kapsel eine Strafverfolgung nach sich ziehen würde.

Die erste Sterbewillige, die mithilfe von Sarco aus dem Leben scheiden wollte, auch sie eine US-Amerikanerin, hatte sich daraufhin zurückgezogen. Sie nahm sich später mit Hilfe einer etablierten Schweizer Sterbehilfeorganisation das Leben. Vor ihrem Tod erhob sie schwere Vorwürfe gegen The Last Resort.

Ein Stück Wald
Das Waldstück in Merishausen nahe der deutschen Grenze, wo die Suizidkapsel ihren ersten Einsatz hatte. Am Boden liegt noch Absperrband. Keystone / Ennio Leanza

Beim zweiten Anlauf setzte sich The Last Resort über die Warnungen der Schweizer Behörden hinweg. Und das ausgerechnet an dem Tag, an dem sich auch der Bundesrat zur Kapsel äusserte: Deren Einsatz ist in der Schweiz laut der Justizministerin nicht zulässig.

Es ist eine Ausgangslage, die viele Fragen offenlässt.

Wo steht das Verfahren gegen die Sterbehilfeorganisation?

Die meisten Personen, die dem Suizid im Schaffhauser Wald beigewohnt hatten, wurden kurz nach ihrer Verhaftung wieder frei gelassen.

Florian Willet, Co-Präsident von The Last Resort und ehemaliger Mediensprecher von Dignitas Deutschland, hingegen sass 70 Tage in Untersuchungshaft. Er kam erst Anfang Dezember auf freien Fuss.

Die zuständige Staatsanwaltschaft teilte gleichentags mitExterner Link, ein Verdacht auf ein Tötungsdelikt sei nicht gegeben. Hingegen bestehe ein «dringender Tatverdacht betreffend der Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord».

Florian Willet bei einer Pressekonferenz zur Sarco-Kapsel.
Florian Willet, Co-Präsident der Sterbehilfeorganisation The Last Resort sass 70 Tage in Untersuchungshaft. Keystone / Ennio Leanza

Ob es zu einer Anklage kommt, ist noch offen. Ein Gerichtsverfahren wäre durchaus in Übereinstimmung mit den Zielen von The Last Resort. In der Schweiz wurde der rechtliche Rahmen der Sterbehilfe bisher wesentlich durch Leitentscheide des Bundesgerichtes gesetzt.

Ist der Einsatz der Sarco-Kapsel in der Schweiz illegal?

Das dürfte dereinst das Bundesgericht entscheiden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit lautet die Antwort allerdings nein.

Zwar haben in der Schweiz verschiedene Behörden den Einsatz als unzulässig taxiert, die Begründungen sind aber sehr divers, was an ihrer rechtlichen Schlagkraft zweifeln lässt.

So hatte etwa der Kanton Wallis argumentiert, die Kapsel sei nicht von der Arzneimittelbehörde Swissmedic zugelassen. Diese erklärte daraufhin, sie sei gar nicht für die Kapsel zuständig, da es sich nicht um ein Medizinprodukt handle.

Die Schweizer Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider erklärte gegenüber dem Parlament, die Sarco-Kapsel erfülle die Anforderungen des Produktesicherheitsrechts nicht. Ausserdem widerspreche die Verwendung des Stickstoffs in der Kapsel dem Chemikaliengesetz.

Es steht in Frage, ob diese Gesetze im Kontext der Sterbehilfe, die das Grundrecht auf ein selbstbestimmtes Sterben berührt, überhaupt anwendbar sind.

Sarco Kapsel
Darf die Suizidkapsel Sarco in der Schweiz betrieben werden? Eine abschliessende juristische Antwort darauf steht noch aus. Keystone / Ennio Leanza

Zweifeln daran lässt unter anderem ein Bundesgerichtsurteil vom letzten März: Im aufsehenerregendsten Fall der letzten Jahre sprach das höchste Schweizer Gericht Pierre Beck, den früheren Vize-Präsidenten der Sterbehilfeorganisation Exit Westschweiz, frei.

Beck hatte einer gesunden 86-jährigen Frau, die zusammen mit ihrem schwerkranken Mann sterben wollte, Beihilfe zum Selbstmord geleistet. Das Bundesgericht befandExterner Link, weder das Heilmittelgesetz noch das Betäubungsmittelgesetz seien in diesem Fall anwendbar.

Analog dazu haben verschiedene Beobachterinnen und Beobachter bereits die Einschätzung geäussert, das vom Bundesrat zitierte Produktsicherheitsgesetz sei auf die Sarco-Kapsel nicht anwendbar.

Dann bliebe als Gesetzesgrundlage nur Abs. 115 des StrafgesetzbuchesExterner Link. In der Schweiz ist die Suizidhilfe demnach dann verboten, wenn sie aus «selbstsüchtigen Beweggründen» erfolgt; und der Suizid muss durch die Person selbst ausgeführt werden (wobei dieser Punkt unter Juristinnen und Juristen umstritten ist).

Bei der Abklärung des Gesundheitszustands und der Urteilsfähigkeit von Sterbewilligen gelten zudem die ärztlichen Sorgfaltspflichten. Darüber hinaus erlässt die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften Richtlinien für involvierte Ärztinnen und Ärzte, die aber keinen rechtlich bindenden Charakter haben.

Die Sterbehilfeorganisationen ihrerseits formulieren eigene Bedingungen und Einschränkungen für ihre Dienstleistung.

Fordern die etablierten Schweizer Sterbehilfeorganisationen nach dem Sarco-Einsatz eine stärkere Regulierung?

Zusammengefasst kann man sagen nein. SWI Swissinfo.ch hat diese Frage den etablierten Schweizer Sterbehilfe-Organisationen gestellt.

Für eine Beschränkung macht sich nur die bekannte Sterbehelferin Erika Preisig von der Organisation Life Circle stark, und das auch nur in einem Punkt: «Ich bin der Meinung, dass jede neu gegründete Organisation eine Betriebsbewilligung einholen müsste, so wie ein Arzt, der eine Praxis aufmachen will.»

Sterbehilfeaktivistin und Ärztin Erika Preisig
Erika Preisig, Präsidentin der Sterbehilfeorganisation Lifecircle, fordert einen Zulassungsprozess für Sterbehilfeorganisationen in der Schweiz. Keystone

Am deutlichsten gegen eine stärkere Regulierung argumentiert die grösste Schweizer Sterbehilfeorganisation Exit Deutsche Schweiz: «Jedes Spezialgesetz würde die assistierte Suizidhilfe gegenüber heute einschränken. Es würden unnötigerweise Details geregelt.»

Besser ist es nach Auffassung von Exit die Auslegung der Details wie bisher der Rechtssprechung zu überlassen, die immer auch den Zeitgeist abbilde. Auch Dignitas und Exit Westschweiz lehnen eine stärkere Regulierung ab.

Ein Thema für die etablierten Sterbehilfeorganisationen bleibt die rechtliche Handhabung der Todesfälle. Ziel wäre es, dass die Behörden bei einer lückenlosen Dokumentation des assistierten Suizides auf eine gerichtsmedizinische Untersuchung sowie das Ausrücken der Polizei verzichten.

Heute haben einzelne Kantone bereits einen vereinfachten Prozess etabliert, insbesondere der Kanton Solothurn, der mit der Sterbehilfeorganisation Pegasos eine Modellösung entwickelt und im Dezember eingeführt hat.

Noch immer aber fallen vielerorts in der Schweiz hohe Kosten an und Angehörige werden durch die Behörden im Trauerprozess gestört.

Der prominente Sterbehilfebefürworter und Pionier Ludwig A. Minelli und seine Organisation Dignitas plädieren ausserdem dafür, in der Schweiz auch die aktive Sterbehilfe zuzulassen. Vorbild für Minelli ist das holländische Modell, das – unter einer Vielzahl von Bedingungen – auch die aktive Sterbehilfe an Demenzkranken erlaubt.

Wird die Schweizer Politik die Sterbehilfe neu regeln?

Im Bundesparlament hat der erste Einsatz der Sarco-Kapsel zwei Vorstösse nach sich gezogen: SVP-Nationalrätin Nina Fehr Düsel verlangt vom Bundesrat zu klären, wie man die Sarco-Kapsel eindeutig verbietenExterner Link könnte. Der Grünliberale Patrick Hässig will wissen, wie man einen gesetzlichen Rahmen für die SuizidhilfeExterner Link schaffen könnte.

Die beiden noch hängigen Vorstösse dürften es schwer haben. Der Bundesrat hat sich bereits dazu geäussert und klar gemacht, dass er keinen Regulierungsbedarf sieht: Der rechtliche Rahmen sei heute «deutlich, aber ausreichend offen gesteckt, um der liberalen Haltung der Schweiz gegenüber der Suizidhilfe Rechnung zu tragen».

Er verweist auf den Bericht «Palliative Care, Suizidprävention und organisierte Suizidhilfe» von 2011, auf dessen Basis die Landesregierung zuletzt auf eine detaillierte Regelung der Suizidhilfe verzichtet hatte. Die rechtlichen Ausführungen darin seien auch vom Parlament mehrfach bestätigt worden.

Tatsächlich sind in der Schweiz diverse Versuche einer spezifischen Regulierung der Suizidhilfe gescheitert. Es gilt Art. 115 des Schweizerischen StrafgesetzbuchesExterner Link von 1942 sowie dessen Auslegung durch Bundesgericht.

Trotz der Emotionen: Die Sarco-Kapsel wird in der reformträgen Schweiz kein Sterbehilfegesetz provozieren.

Haben Sie selbst Suizidgedanken oder kennen Sie eine Person, die Unterstützung benötigt? Dann kontaktieren Sie in der Schweiz die Dargebotene Hand, Telefon 143. E-Mail- und Chat-Kontakte finden Sie auf www.143.chExterner Link. Das Angebot ist anonym und kostenlos.

Für Kinder und Jugendliche betreibt Pro Juventute die Telefonnummer 147, auch hier ist der Austausch per SMS, Chat und E-Mail möglich, alle Details auf www.147.chExterner Link.

Weitere Informationen und Kontaktstellen in den einzelnen Kantonen finden Sie auf www.reden-kann-retten.chExterner Link. Adressen für Menschen, die jemanden durch Suizid verloren haben, gibt es auf www.trauernetz.chExterner Link.

Eine Liste mit Hilfsangeboten in DeutschlandExterner Link finden Sie bei der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention, eine für Österreich bei der Suizidprävention AustriaExterner Link.

Wird die Sarco-Kapsel die Sterbehilfe in der Schweiz verändern?

Exit Deutsche Schweiz und Dignitas erklären auf Anfrage sinngemäss, dass sie die Suizidkapsel als ein Randphänomen betrachten und von einer geringen Nachfrage ausgehen.

Die Schweizer Sterbehilfeorganisationen haben die Erfahrung gemacht, dass die meisten Menschen im Kreise ihrer Angehörigen sterben – dass sie eine Hand halten wollen. In der Sarco-Kapsel – dem «Tesla der Sterbehilfe» – erwartet einen in den letzten Momenten des Lebens die Isolation.

The Last Resort weist indes auf seiner Webseite darauf hin, dass die Kapsel auch für den gemeinsamen Suizid genutzt werden kann. Ein britisches Paar hatte im September mit entsprechenden Plänen SchlagzeilenExterner Link gemacht.

Die tatsächliche Nachfrage nach Sarco einzuschätzen, bleibt schwierig. Offen ist auch, wie weit Nitschke und The Last Resort mit Sarco auf die Schweiz angewiesen sind. In einem Interview mit der Externer LinkNZZExterner Link nannte Nitschke Finnland als eine mögliche Alternative. Auch in Deutschland könnte seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2020Externer Link der rechtliche Spielraum gross genug für einen Einsatz der Kapsel sein.

Die ursprüngliche Idee Nitschkes, die Baupläne zur Verfügung zu stellen, so dass sich Sterbewillige weltweit ihre Kapsel mit Hilfe eines 3D-Druckers selbst zusammenbauen können, dürfte hingegen derzeit noch begrenzt praktikabel sein.

Die angepeilten Druckkosten gibt The Last Resort mit 15’000 Euro an. Und schliesslich scheint eine Sterbekapsel zum Selberbauen ein grosses Projekt für jemanden, der todkrank ist.

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