Napoleon, der Standpunkt des Mediators
Nachdem er von seinen ersten Kontakten mit der Schweiz erzählt hat, kommt der ehemalige Kaiser auf die Mediationsakte zu sprechen.
Nachfolgend der zweite Teil unseres Gesprächs mit Napoleon Bonaparte in Paris.
1802, während der Helvetischen Republik, die Frankreich für unser Land angeordnet hatte, wurden zwischen den Anhängern dieser «Einen und Unteilbaren Helvetischen Republik» und den Föderalisten erbitterte Streitigkeiten ausgetragen. Schliesslich brach in der Eidgenossenschaft ein Bürgerkrieg aus. Napoleon Bonaparte schaute der Verschlechterung der Lage vorerst tatenlos zu.
Er hatte zu jener Zeit andere Probleme zu lösen. So musste er insbesondere die Bemühungen für einen Frieden in Europa zu einem positiven Abschluss bringen. «Da die Schweizer keine Gefährdung französischer Interessen darstellten, war es viel raffinierter, sie den ersten Schritt tun zu lassen», sagt Napoleon gegenüber swissinfo.
Und so kam es dann auch: Nachdem sich die Schweizer in ihren Konflikten festgefahren hatten, riefen sie Frankreich um Hilfe an. Am 30. September 1802 entsprach Bonaparte, der inzwischen Erster Konsul geworden war, ihrem Wunsch und tat seine Absicht kund, die Rolle eines Mediators zu übernehmen.
Im Dezember reisten Vertreter der beiden Bewegungen, d.h. der Föderalisten und der Anhänger des Einheitsstaates, nach Paris, um dort eine neue Verfassung zu erarbeiten. Bonaparte bestimmte vier französische Senatoren, unter deren Leitung die so genannte Mediationsakte entstand.
«Die Schweiz ist mit keinem anderen Staat vergleichbar»
Am 10. Dezember gab Napoleon den Abgesandten der Kantone seine Absichten bekannt, die in völligem Gegensatz zur Auffassung des Direktoriums standen. Mit welchen Worten wandte sich Napoleon damals an die Eidgenossen?
Er habe den Gästen aus der Schweiz die Einzigartigkeit der Schweizer Entwicklung vor Augen geführt, erinnert sich der Franzose und zieht aus einem Stapel Papier die Abschrift seiner damaligen Ansprache vor.
Darin heisst es: «Auf Grund der Ereignisse, die sich in letzter Zeit abgespielt haben, der geografischen und topografischen Situation, der verschiedenen Sprachen und Religionen und der extremen Unterschiede, die zwischen den verschiedenen Parteien hinsichtlich ihrer Sitten und Gebräuche bestehen, ist die Schweiz mit keinem anderen Staat vergleichbar. Euer Staatenbund ist aus den natürlichen Gegebenheiten entstanden. Es wäre kein weiser Entschluss, sich darüber hinwegzusetzen.»
Die Abgesandten waren völlig verblüfft, denn viele von ihnen hatten eine Rede erwartet, in der jakobinische und damit zentralistische Auffassungen vertreten würden.
«An jenem Tag nahm ich zur Kenntnis, dass die Schweiz kein homogenes Gebilde ist», sagt Napoleon weiter. «Ich wusste dies im Grunde spätestens seit 1789. Damals las ich den Reisebericht eines Engländers namens Cox, in dem die verschiedenen Kantone beschrieben wurden. Ich hatte mir damals persönliche Notizen gemacht. Diese hatte ich aufbewahrt und für diese Rede benutzt.»
Gut einen Monat später, am 19. Januar 1803, wurde die Mediationsakte in Anwesenheit von Talleyrand und Bonaparte dem Freiburger Louis d’Affry übergeben, dem ersten «Landammann».
Sicherheitsinteressen
Dies bedeutete das Ende der Helvetischen Republik. Das Land hiess fortan Schweizerische Eidgenossenschaft. Diese umfasste jetzt sechs zusätzliche Kantone, die im Zuge der Mediationsakte aus ehemaligen Untertanengebieten bzw. verbündeten Gebieten hervorgegangen waren.
Bonaparte trug zwar der Identität der verschiedenen Kantone Rechnung, doch sein Engagement war – wie könnte es anders sein – nicht ohne Eigeninteresse, wie er gegenüber swissinfo freimütig zugibt: «Der Nutzen einer Mediation besteht darin, dass ein Mediator beteiligt ist! Dieser hat nicht die Aufgabe, sich um Einzelheiten und um lokale Streitigkeiten zu kümmern. Als Mediator legten wir die Aussenpolitik der Schweizerischen Eidgenossenschaft fest. Und damit bestimmten wir auch, zu welchem Lager die Schweiz zu gehören hatte.»
Im Dezember 1802 hatte der Erste Konsul, der auch Präsident der Cisalpinen Republik war und schon bald König von Italien werden sollte, den schweizerischen Abgesandten unmissverständlich klar gemacht, wem sich die Schweizer von nun an freundschaftlich verbunden zu fühlen hatten.
Wie hat Napoleon diese Haltung damals begründet? «Die Politik der Schweiz wird seit jeher als Teil der Politik Frankreichs, Savoyens und Mailands betrachtet», betont Bonaparte. «Da die Existenz der Schweiz vollständig von der Sicherheit dieser Staaten abhängt, wird es die oberste und bedeutendste Pflicht der französischen Regierung sein, dafür zu sorgen, dass in Ihrem Land kein feindliches System die Oberhand gewinnt und dass es jenen Männern, die den Feinden Frankreichs ergeben sind, niemals gelingen wird, in der Schweiz die Führung an sich zu reissen.»
Nach Auffassung von Bonaparte hatte die Schweiz innerhalb des Konzepts der natürlichen Grenzen Frankreichs eine Position von grundlegender strategischer Bedeutung. «Die Schweiz war ein unabdingbares Element unseres Verteidigungs-Dispositivs. Wir waren deshalb durchaus berechtigt, uns in schweizerische Angelegenheiten einzumischen und von der Schweiz zu verlangen, dass sie die Verteidigung der französischen Grenze gewährleistete.»
Im übrigen hatte Frankreich das Recht, jedes Jahr ein bedeutendes Kontingent von Schweizern für seine Armee auszuheben. Die Schweizerische Eidgenossenschaft, die ein unabhängiger Staat und zugleich auch ein Satellit Frankreichs war, wurde von Bonaparte in erster Linie als «Soldatenreservoir» betrachtet.
Wirtschaftliche Interessen
«Vor der Revolution bestand die grosse französische Wirtschaftsachse in der Atlantikküste mit den grossen Häfen, die mit den Antillen das bekannte Handelsdreieck bildeten», erinnert sich Bonaparte, dessen Konzentration trotz der Länge des Gesprächs nicht nachlässt.
«Doch durch den Krieg mit England wurde dieser Handel zunichte gemacht. Deshalb begann sich mit der Zeit eine andere Achse abzuzeichnen: Dabei handelte es sich um eine kontinentale Achse, die über Mailand, der Hauptstadt des Königreichs Italien, und über Strassburg bis zur Stadt Frankfurt reichte, die zur Hauptstadt des Rheinbundes wurde.»
Innerhalb dieser Achse war die Schweiz ein Verkehrsknotenpunkt und ein Durchgangsland, das den Transit über den Rhein und die Alpenpässe erlaubte. Napoleon, der sich kurz darauf zum Kaiser der Franzosen krönte, war Protektor des Rheinbundes, König von Italien und Mediator der Schweizerischen Eidgenossenschaft: Er kontrollierte somit die gesamte Achse.
Diese wirtschaftliche Dimension ist auch die Erklärung für einige Umstrukturierungen, die der Kaiser im Alpenraum vornahm: 1810 besetzte Frankreich das Tessin und annektierte das Wallis. Und 1811 drohte Napoleon, auch die Schweiz zu annektieren.
Worauf war dies zurückzuführen? Mit Hilfe der «Kontinentalsperre», die nach der Schlacht von Jena geschaffen worden war, hoffte Napoleon England ruinieren zu können: Die Engländer wurden daran gehindert, ihre Erzeugnisse und Kolonialwaren ins europäische Festland zu exportieren. An die Stelle der englischen Industrie sollte die französische treten.
Doch die Schweiz spielte in diesem Spiel nicht mit, sie war eine der Hochburgen des Schmuggels mit England. Damit zog sie den Zorn und die Drohungen des Kaisers auf sich: «Es war offensichtlich, dass sich die Schweizer an all den Verboten und Behinderungen des Warenverkehrs sehr störten», ereifert sich Napoleon noch heute. «Die Schweiz hatte sich zu einer eigentlichen Drehscheibe des Schmuggels entwickelt.»
Die Auflösung
Es folgten das Desaster des Russlandfeldzuges und die traumatische Erfahrung an der Beresina vom 21. November 1812, wo die noch verbliebenen schweizerischen Truppenverbände aufgerieben wurden. Dazu kam, dass die Eidgenossenschaft zunehmend unter dem wirtschaftlichen Druck litt, den die Kontinentalsperre auslöste.
«In der Schweiz entstand eine unterschwellige Abneigung gegen mich», räumt Bonaparte ein. Er sei sich «dessen zu wenig bewusst» gewesen, weil er «mit anderen Problemen zu kämpfen» gehabt habe. «Deutschland fiel auseinander. Holland lief zum Feind über. In Neapel betrieb Murat ein doppeltes Spiel. Und Norditalien wurde von den österreichischen Truppen bedroht.»
«Zu jenem Zeitpunkt hatte ich wahrscheinlich zu wenig Rücksicht auf die Schweizer genommen, was schliesslich dazu führte, dass sie 1813 abtrünnig wurden», gibt sich Napoleon selbstkritisch. «Ich spreche nicht von Verrat. Sie profitierten ganz einfach vom Zerfall meines Reichs und holten sich ihre Unabhängigkeit zurück.»
Nach der Niederlage der Franzosen in der Schlacht bei Leipzig verkündete die Schweiz ihre «Neutralität». Es blieb beim Lippenbekenntnis: Am 20. Dezember 1813 überquerten die österreichischen und russischen Truppen bei Basel den Rhein.
Epilog
Neun Tage später beendeten die ehemaligen Kantone offiziell das Regime der Mediation. Die Zukunft der Schweiz hing nun nicht mehr von Paris sondern von den Siegermächten ab, die sich 1815 am Wiener Kongress auf eine restaurative Neuordnung Europas einigten.
Trotzdem blieb der Beitrag von Napoleon Bonaparte in den Kantonen erhalten. «Eure ganze Geschichte lässt sich auf eine Aussage reduzieren: Ihr seid eine Ansammlung von kleinen Demokratien», sagt Bonaparte.
swissinfo, Bernard Léchot, Paris
(Ein Teil der Zitate Napoleons beruhen auf tatsächlichen Aussagen des Franzosen. Andere wurden von swissinfo in Zusammenarbeit mit dem Napoleonkenner Jean Tulard zusammengestellt.)
30. September 1802: Bonaparte gibt bekannt, dass er im Zusammenhang mit den Angelegenheiten der Schweizerischen Eidgenossenschaft die Rolle eines «Mediators» übernimmt.
Dezember 1802: Eine schweizerische Abordnung reist nach Paris, um eine neue Verfassung zu erarbeiten.
19. Februar 1803: Unterzeichnung der Mediationsakte.
1806: Napoleon übergibt Marschall Berthier das Fürstentum Neuenburg, das bis dahin dem preussischen König unterstand.
1810: Frankreich annektiert das Wallis und besetzt das Tessin.
20. Dezember 1813: Die Eidgenossenschaft lässt preussische, österreichische und russische Truppen bei Basel den Rhein überqueren.
29. Dezember 1813: Die Kantone vereinbaren die Beendigung der Mediation.
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