Neue Spannungen Schweiz – Türkei
Die Türkei ist irritiert wegen einer Untersuchung gegen einen türkischen Historiker. Er soll den Genozid an den Armeniern verleugnet haben.
Dieses Thema hat bereits 2003 die Beziehungen zwischen der Türkei und der Schweiz belastet.
Nachdem die türkischen Behörden von den Winterthurer Ermittlungen gegen den Professor und Präsidenten der Türkischen Historischen Gesellschaft, Yusuf Halacoglu, erfahren hatten, bestellte das türkische Aussenministerium vor einer Woche den Schweizer Botschafter Walter Gyger ein.
Zugleich intervenierte die türkische Botschaft in Bern bei der Schweizer Regierung, um gegen die Ermittlungen zu protestieren. Für die weitere Entwicklung des Falles sei eine enge Zusammenarbeit zwischen Bern und Ankara vereinbart worden, sagte der Botschafts-Sprecher. Die Schweiz habe sich äusserst kooperativ gezeigt.
Die Regierung sei von der Stellungnahme der Schweizer Botschaft in Ankara beruhigt, wonach es sich lediglich um Vor-Ermittlungen handle, kein Haftbefehl bestehe und der Historiker weiterhin frei reisen könne, hiess es in Ankara weiter.
Offizialdelikt führt zu Ermittlungen
Die Ermittlungen seien aufgrund des Vortrages eingeleitet wurden, den Halacoglu am 2. Mai 2004 in der alten Kaserne in Winterthur vor einem türkischen Verein gehalten habe, erläuterte der zuständige Staatsanwalt in Winterthur, Andrej Gnehm.
Da es sich bei der Leugnung, der gröblichen Verharmlosung oder auch der Rechtfertigung eines Genozids um ein Offizialdelikt handle, habe er das Verfahren einleiten müssen. Via Interpol habe man die türkischen Behörden um Informationen zur Person des Historikers gebeten.
Kein internationaler Haftbefehl
In einem nächsten Schritt möchte Gnehm Halacoglu einvernehmen, damit dieser zu den Vorwürfen Stellung nehmen könne. Denkbar sei eine schriftliche Replik oder auch eine persönliche Einvernahme. Erst dann könne er entscheiden, ob das Verfahren weitergeführt oder eingestellt werde, sagte der Winterthurer Ermittler weiter.
Das Bundesamt für Justiz (BJ) hatte zuvor Meldungen türkischer Medien dementiert, wonach die Schweizer Justiz den Vorsitzenden der Türkischen Gesellschaft für Geschichte mit internationalem Haftbefehl von Interpol suchen lasse. Es gebe keinen Haftbefehl, sagte BJ-Sprecher Folco Galli.
Sturm im Blätterwald
Sowohl der türkische Aussenminister Abdullah Gül als auch Historiker und führende Mitglieder der armenischen Gemeinde hatten in türkischen Medienberichten gegen die Schritte der Schweizer Justiz protestiert.
«Sie (die Schweizer Behörden) begehen einen schweren Fehler», sagte Gül in der Tageszeitung «Hürryet» im Zusammenhang mit den Winterthurer Ermittlungen. Die Schweiz verletzte mit dieser Missachtung der Meinungsfreiheit die europäischen Grundwerte. Auch der prominente türkisch-armenische Journalist Hrant Dink erklärte in der Zeitung: «Ich verurteile diese Entscheidung.»
Chefideologe der Regierung
Halacoglu gehört zu den prominentesten Verfechtern der türkischen Thesen zu den Ereignissen von 1915. So berief sich die Regierung kürzlich in einer Parlamentsdebatte zu diesem Thema auf den Wissenschafter.
Völkermord an den Armeniern habe es keinen gegeben, aber Deportationen, behauptet Halacoglu. Diese seien eine Reaktion auf Rebellionen der Armenier während des Ersten Weltkrieges gewesen. Dabei sei es zu Übergriffen gekommen. Hauptsächliche Todesursache sei jedoch die Versorgungslage im Krieg gewesen. Zudem seien auch Muslime von Armeniern getötet worden.
Test für «offenen Geist»
Deutlich wurden die Spannungen zwischen Bern und Ankara im Herbst 2003, als die Schweizer Aussenministerin vor einem geplanten Türkei-Besuch von Ankara kurzfristig ausgeladen wurde. Auslöser für die Verschiebung war die Resolution des Waadtländer Parlamentes und dann des Nationalrates, welche die Ereignisse von 1915 als Völkermord an den Armeniern bezeichneten.
Nach dem nun nachgeholten Besuch und der Streichung der Schweiz von der Roten Liste für Waffenimporte in die Türkei vor einer Woche begrüsste das Aussenministerium in Bern «einen offeneren Geist und eine grössere Toleranz der Türkei gegenüber allfälligen divergierenden Meinungen anderer Staaten». Die neuen Irritationen dürften nun zum Test für diesen Geist werden
swissinfo und Agenturen
800’000 bis 1,8 Mio. Armenier wurden zwischen 1915 und 1918 im ottomanischen Reich getötet.
Dies wird von der Türkei bis heute bestritten.
Trotzdem wurde dieser Völkermord in den letzten Jahren durch die Parlamente von Frankreich, Russland und Italien anerkannt.
Am 16. Dezember 2003 hat der Schweizer Nationalrat, die Grosse Kammer, den Genozid an den Armeniern anerkannt.
2004 exportierte die Schweiz Güter im Wert von 1,9 Mrd. Franken in die Türkei, 17% mehr als im Vorjahr.
Die Schweiz ist die sechstgrösste ausländische Investorin in der Türkei. Ende 2003 erreichten die Schweizer Investitionen eine Höhe von 1,1 Mrd. Franken, 84 Mio. mehr als Ende 2002.
Von Juli 2003 bis Jahresmitte 2004 haben sich 42 Schweizer Firmen in der Türkei niedergelassen. Zusammen beschäftigen sie 9000 Arbeitnehmende.
In der Schweiz leben mehr als 80’000 türkische Staatsangehörige und etwa 6000 Personen mit armenischen Wurzeln.
Rund 1600 Schweizerinnen und Schweizer leben in der Türkei.
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