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Neues Kapitel in der Geschichte der Menschenrechte?

Keystone

Das Menschenrecht auf Nahrung hat künftig mehr Gewicht: Wird es verletzt, können Betroffene es vor einem UNO-Ausschuss einklagen - sofern ihr Staat das Zusatzprotokoll zum Sozialpakt unterzeichnet und ratifiziert hat. Aber viele Staaten verweigern die Unterschrift - auch die Schweiz.

Ein Meilenstein sei erreicht, sagten Vertreter von Menschenrechtsorganisationen, als die ersten Staaten Ende September in New York das Fakultativprotokoll zum Pakt über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte unterzeichneten. Im Pakt von 1966 sind Menschenrechte wie jenes auf Nahrung, Bildung oder Arbeit verankert.

Mit der Annahme des Protokolls vor rund einem Jahr schuf die UNO-Generalversammlung einen Ausgleich zu den bürgerlichen und politischen Menschenrechten, die seit langem eingeklagt werden können. «Das Dokument schliesst eine Lücke», sagte damals die UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay. Alle Menschenrechte seien gleichrangig.

Nicht kompatibel mit Schweizer Recht

In der Praxis gelten die Sozialrechte aber oft als weniger verbindlich. Viele Staaten stellen sich auf den Standpunkt, Rechte wie jenes auf Nahrung seien nicht genügend konkret für Gerichtsentscheide beziehungsweise – im Fachjargon ausgedrückt – nicht justiziabel. Die Staaten sollen sich demnach bemühen, aber nicht zur Rechenschaft gezogen werden können.

Diese Haltung ist nicht zuletzt im deutschsprachigen Raum verbreitet: Weder Deutschland noch Österreich noch die Schweiz planen derzeit, das Protokoll zu unterzeichnen. Der Bundesrat hat sich im Frühjahr gegen eine Unterzeichnung ausgesprochen.

Das Protokoll beinhalte eine umfassende Einklagbarkeit aller Rechte, hielt er in seiner Antwort auf eine Motion fest. Dies sei mit der Schweizer Rechtsordnung nicht kompatibel. Ohnehin sei umstritten, ob der Sozialpakt individuelle Ansprüche begründe, die in einem quasigerichtlichen Verfahren überprüft werden könnten.

Konservatives Verständnis der Menschenrechte

«Das ist komplett falsch», empört sich Jean Ziegler, der ehemalige UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Spätestens seit der Wiener Konferenz von 1993 sei klar, dass es keine zweitrangigen Menschenrechte gebe. Damals habe die Staatengemeinschaft festgehalten, dass alle Menschenrechte universell, unteilbar und interdependent seien.

Auf dieses Faktum verweist auch der österreichische Menschenrechtsjurist und UNO-Sonderberichterstatter Manfred Nowak, der an der Ausarbeitung des Protokolls beteiligt war. Die Ablehnung des Protokolls zeuge von einem äusserst konservativen Verständnis der Menschenrechte. «Ein Recht ist nur dann ein Recht, wenn es auch eingeklagt werden kann.»

Die Gegner machen ihrerseits geltend, dass nicht Grundsätze zur Debatte stünden, sondern Details. «Der Kerngehalt der Sozialrechte ist unbestritten», sagt Christoph Spenlé, Menschenrechtsspezialist im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA).

Beim Recht auf Arbeit zum Beispiel gehöre der Anspruch, seine Arbeit frei wählen zu dürfen, zum Kerngehalt, und dieser sei justiziabel. Das Protokoll gehe aber darüber hinaus und könnte so interpretiert werden, dass der Staat das Recht auf eine umfassende Berufsausbildung gewährleisten müsse. «Wie das umzusetzen wäre, ist offen.»

Manfred Nowak lässt solche Einwände nicht gelten. Es gehe um Dinge wie Kündigungsschutz. Die Staaten, die das Protokoll nicht unterzeichneten, wollten verhindern, dass ihre Praxis von einem UNO-Gremium beurteilt werde. Auch Sandra Ratjen von der auf Sozialrechte spezialisierten Menschenrechtsorganisation FIAN International hält die Einwände der Gegner für Ausreden.

Nicht unmittelbar, aber längerfristig wirksam

Doch was nützt es überhaupt, wenn Sozialrechte einklagbar sind? Müssen weniger Menschen hungern? «Man sollte realistisch bleiben», sagt Ratjen. Das neue Instrument helfe hungernden Menschen nicht unmittelbar. Aber das Recht auf Nahrung werde einen anderen Stellenwert erhalten. «Längerfristig bringt das etwas.»

Laut Ratjen sind auch Präzedenzentscheide zu erwarten, zum Beispiel bei Fällen von Landenteignung. Wenn der zuständige UNO-Ausschuss festhalte, dass Bauern, die sich gegen Landenteignung wehrten, nicht kriminell seien, sondern ihr Recht verteidigten, sei viel gewonnen. Manfred Nowak nennt als Beispiel die Versorgung von Gefangenen mit ausreichend Nahrung.

Bei seiner Beurteilung berücksichtigt der UNO-Ausschuss, dass nicht alle Staaten gleichermassen in der Lage sind, die Pflichten zu erfüllen. Im Fall eines «Schuldspruchs» muss der betroffene Staat Massnahmen ergreifen und Rechenschaft darüber ablegen.

Charlotte Walser, swissinfo.ch und InfoSüd

Die FAO rief den Tag 1979 mit dem Ziel ins Leben, «Nahrung für alle» zu schaffen. In vielen Ländern werden am 16. Oktober Veranstaltungen organisiert.

Mehr als eine Milliarde Menschen sind nach Schätzungen der Welternährungsorganisation (FAO) unterernährt. Daran erinnert die UNO-Organisation insbesondere am Welternährungstag.

In diesem Jahr blickt die FAO vor allem auf die Folgen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise für arme Menschen.

Sie fordert alle Staaten dazu auf, den Hunger auf der Welt auch in
finanziell schwierigen Zeiten zu bekämpfen.

Das Fakultativprotokoll zum Sozialpakt unterzeichnen wollen Staaten wie Angola, Benin, Senegal, die Philippinen und die Ukraine. Bereits unterzeichnet haben mehrere südamerikanische, aber auch europäische Staaten: Portugal, Belgien, Italien, Spanien, Finnland und die Niederlande.

Diese Staaten hätten modernere Verfassungen als Deutschland, Österreich und die Schweiz, erklärt Manfred Nowak, österreichischer Menschenrechtsjurist und UNO-Sonderberichterstatter über Folter. «Früher oder später werden wir unsere Verfassungen auch modernisieren müssen.»

Es gehe nicht zuletzt darum, den Ländern des Südens entgegenzukommen, sagt Nowak. Für diese seien die Sozialrechte besonders wichtig. Rechte wie jene auf Nahrung und Bildung als zweitrangig zu betrachten, sei nicht nur überholt, sondern auch arrogant. Das Fakultativprotokoll zum Sozialpakt tritt in Kraft, wenn zehn Staaten es ratifiziert haben.

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