Neutralitäts-Debatte erhitzt die Gemüter
Die Idee einer Schweizer Kandidatur für einen Sitz im UNO-Sicherheitsrat und der Vorschlag, Schweizer Soldaten nach Libanon zu entsenden, haben die Debatte über die Neutralität neu entfacht.
Die politische Rechte bezichtigt die sozialdemokratische Aussenministerin Micheline Calmy-Rey des «Aktivismus».
«Mischt Euch nicht in fremde Händel!» Dies ist der Rat, den der heilige Niklaus von Flüe (1417-1487) den Eidgenossen 1481 gegeben hat.
Die aktuelle Vision der Neutralität von Aussenministerin Micheline Calmy-Rey ist jedoch eine ganz andere.
Die Anhängerin einer «aktiven Aussenpolitik» hat in wenigen Wochen die israelische Intervention in Libanon kritisiert, die Möglichkeit einer Entsendung von Schweizer Soldaten ins Krisengebiet erwähnt und die Idee einer Kandidatur der Schweiz für einen Sitz im UNO-Sicherheitsrat lanciert.
Und diese Beispiele sind nur einige in einer langen Serie. Seit ihrer Wahl in den Bundesrat 2002 hat die Genfer Sozialdemokratin, die dem Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) vorsteht, ihre diplomatischen Initiativen vervielfacht: Die Genfer Initiative für den israelisch-palästinensischen Konflikt, der Menschenrechts-Rat, der rote Kristall oder die Unabhängigkeit des Kosovo.
Stiländerung
Die Schweizer Aussenpolitik, die sich während Jahrzehnten durch eine extreme Reserviertheit ausgezeichnet hat, wurde in den letzten Jahren ambitionierter. Doch Calmy-Rey hat ihre Intentionen nie versteckt.
«Die öffentliche Diplomatie bedeutet, die übliche Diskretion, die um die Diskussion oder die Verhandlung von Abkommen oder internationalen Verträgen zwischen Regierungen herrscht, durch eine offene Kommunikation unserer Position zu ersetzen, als Mittel des Drucks in den Verhandlungen», hatte sie bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt nach 100 Tagen im Amt erklärt.
Doch die Stiländerung ist weit davon entfernt, alle glücklich zu machen. Nach ihrer Erklärung zur militärischen Intervention Israels in Libanon haben ihr viele eine Verletzung der Neutralität vorgeworfen.
Calmy-Rey wies diesen Vorwurf zurück und erklärte, die Schweiz als Depositärstaat der Genfer Konventionen habe die Aufgabe, diese zu verteidigen. Eine Haltung, die auch Cornelio Sommaruga, ehemaliger Präsident des internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), vertritt.
Im Gegenzug kritisierte die rechtsbürgerliche Schweizerische Volkspartei (SVP) diese Politik als zu aktiv. Am Dienstag verlangte die Partei, dass der Bundesrat oder das EDA bei Themen, welche die Neutralität betreffen, vor einem Positionsbezug die Aussenpolitischen Kommissionen beider Parlamentskammern konsultieren müsse. Die Kommission lehnte den Vorstoss jedoch ab.
Initiative angekündigt
Die mögliche Schweizer Kandidatur für den UNO-Sicherheitsrat rief SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli auf den Plan, der ein solches Engagement als nicht vereinbar mit der Neutralität bezeichnete.
Die politische Rechte will ausserdem eine Volksinitiative lancieren, um die Einhaltung der Neutralität in der Bundesverfassung festzuschreiben. «In Sachen Aussenpolitik muss die Schweiz einen Schritt zurück machen», betonte SVP-Präsident Ueli Maurer.
Auch die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP) kritisierte Micheline Calmy-Reys «Ankündigungs-Politik». In den Augen der FDP führt diese Vorgehensweise die Landesregierung dazu, sich vermehrt um rhetorische Fragen statt um konkrete Taten zu kümmern.
Neutralität: Ja, aber eine aktive
«Wissen Sie, für manche Leute sollte die Schweiz nichts sagen, nichts tun – und ich sollte mich unter dem Tisch verstecken. Diese Leute haben ein statisches Verständnis von Neutralität», erklärte Aussenministerin Calmy-Rey in einem Interview mit der Basler Zeitung.
«Nur durch Schweigen und Passivität würden wir unsere Interessen – also Sicherheit und Wohlstand für alle, für das ganze Land – nicht wahren können.»
Für Peter Maurer, Schweizer UNO-Botschafter in New York, gibt es «keinen Widerspruch» zwischen dem Engagement der Schweiz für Frieden, Menschenrechte, Umweltfragen, Entwicklungsfragen und der immer währenden Neutralität.
Gegenüber Schweizer Radio DRS erinnerte Maurer am Mittwoch daran, dass der Bundesrat schon 2003 gesagt habe, die Teilnahme im Sicherheitsrat sei ein Projekt, das zu gegebener Zeit zu prüfen sei.
Auf die Frage, ob er die derzeitige Neutralitätsdiskussion in der Schweiz wie «einen Sturm im Wasserglas» erlebe, antwortete Maurer: «Nein, ich denke, diese reflektiert die Sorge darum, wie genau wir unser Engagement in den internationalen Foren interpretierten. Und es ist ein Zeichen dafür, dass wir eine lebhafte Diskussion zur Aussenpolitik haben, und das ist auch ein gutes Zeichen für die politische Kultur in unserem Land.»
swissinfo, Daniele Mariani
(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
Die immerwährende Neutralität der Eidgenossenschaft geht zurück auf die Schlacht bei Marignano in Italien (1515), die sie gegen die Franzosen verloren hatte. Dies markierte das Ende der Militärpolitik der alten helvetischen Konföderation.
Am 20. November 1815 anerkannten die Vertragsstaaten des Wiener Kongresses die Neutralität der Schweiz.
Neutralität bedeutet im Bereich der Staatenwelt die Nichtbeteiligung an einem bewaffneten Konflikt zwischen anderen Staaten.
Die schweizerische Neutralität kennzeichnen heute drei Merkmale: sie ist selbst gewählt, dauernd (nicht mehr immerwährend) und bewaffnet.
1993 sagte sich der Bundesrat (Landesregierung) los vom Prinzip der «integralen» Neutralität. Seither kann die Schweiz auch multilaterale wirtschaftliche und sogar militärische Zwangsmassnahmen ergreifen.
Nach den letzten Erklärungen von Aussenministerin Micheline Calmy-Rey und der darauf folgenden Polemik hat die Landesregierung (Bundesrat) das Aussenministerium aufgefordert, einen Bericht über die Neutralität zu verfassen, den vierten innert 15 Jahren.
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