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Obdachlosigkeit in der reichen Schweiz: Betroffene erzählen

Marco
Marco, 42 Jahre, hofft auf einen Neuanfang, einen Job und eine Wohnung. Thomas Kern / swissinfo.ch

Auch in einem Wohlfahrtsstaat wie der Schweiz fehlt es immer mehr Menschen an einer eigenen Wohnung. Viele Notschlafstellen sind ausgelastet. Was steckt dahinter?

Es ist fast frühlingshaft warm an diesem Donnerstagnachmittag Ende Januar in Bern. In einer ruhigen Quartiersstrasse sitzt ein Mann auf einer Bank vor dem Büro des Vereins der kirchlichen Gassenarbeit. Er trinkt ein Bier und blinzelt in die Sonne.

Vor ihm dröhnt aus einer Box laute Rockmusik. «Das ist Rabauke», sagt der Mann zur Begrüssung und zeigt auf seinen Hund. Er selbst stellt sich als «Zwerg» vor. «So kennt man mich auf der Gasse.»

Eva Gammenthaler, Mitarbeiterin bei der kirchlichen Gassenarbeit, kennt ihn gut. «Er kommt regelmässig zu uns.» Zwei mal in der Woche können Menschen in prekären Lebenslagen im Büro der kirchlichen Gassenarbeit für zwei Stunden an der Wärme sein, etwas trinken, essen, sich mit Kleidern oder Schlafsäcken eindecken und bei Fragen beraten lassen.

Eva Gammenthaler
Eva Gammenthaler: “Unter den Betroffenen sind immer wieder Menschen, die ich noch nie gesehen habe”. Thomas Kern / swissinfo.ch

«Manchmal besuchen uns bis zu 80 Leute an einem Nachmittag», sagt Gammenthaler. Wenn die Sonne scheint wie heute, seien es weniger.

Zwerg, spitzer Kinnbart, schwarze Lederjacke über dem Kapuzenpulli, hat im Büro Hundefutter für Raubauke abgeholt. «Gestern bin ich 48 Jahre alt geworden», erzählt er. Früher habe er als Schiffsmechaniker gearbeitet und die Welt bereist. Seither sei er immer mal wieder auf der Gasse gelandet.

Die Gründe dafür möchte er lieber nicht erzählen, «zu schmerzhaft», sagt er. Die letzten Jahre habe er auf einem Wagenplatz gewohnt, kürzlich sei er dort jedoch rausgeschmissen worden.

Manchmal komme er bei Freunden unter. Immer mal wieder müsse er draussen schlafen. «Das ist gar nicht ok», sagt er. In die Notschlafstelle gehe er jedoch auch nicht gerne. «Da wird man nur beklaut. Und Hunde sind nicht erlaubt.»

Dass das ein Problem ist, bestätigt Gammenthaler. Zwerg sei nicht der einzige Obdachlose, der sein Leben mit einem Vierbeiner teile. Ohnehin fordern Anlaufstellen wie der Verein der kirchlichen Gassenarbeit in Bern schon lange mehr Schlafplätze für wohnungs- und obdachlose Menschen, die ohne Einlasskriterien besucht werden können.

2200 Menschen obdachlos

In der Stadt Bern gibt es drei Notschlafstellen mit insgesamt rund 87 Betten. Die Nachfrage hat seit 2021 konstant zugenommen. Ähnlich sieht es in Städten wie Zürich, Basel oder Genf aus. «Früher haben wir jenen, die keinen Platz in der Notschlafstelle bekamen, manchmal das Zugticket in eine andere Stadt bezahlt», sagt Gammenthaler.

Das sei heute kaum mehr möglich, weil die Angebote vielerorts ausgelastet seien. Laut einer StudieExterner Link der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) aus dem Jahr 2022 sind in der Schweiz geschätzte 2200 Menschen obdachlos. Es ist die erste Studie schweizweit, die Zahlen dazu liefert.

Auch Gammenthaler bemerkt, dass das Angebot des Vereins der kirchlichen Gassenarbeit verstärkt nachgefragt werde. «Vor allem seit der Pandemie.»

Neben den offenen Nachmittagen sind die Mitarbeitenden auf der Gasse unterwegs und verteilen etwa sauberes Konsummaterial, Hygieneartikel oder Gutscheine für Essen oder die Notschlafstelle. «Unter den Betroffenen sind immer wieder Menschen, die ich noch nie gesehen habe», sagt Gammenthaler.

Doch wie kommt es, dass Menschen in einem wohlhabenden Land wie der Schweiz ohne Wohnung dastehen? «Es gibt verschiedene Wege in die Obdachlosigkeit,» sagt die Sozialarbeiterin. Oft stehe am Anfang ein Schicksalsschlag; eine Krankheit, Trennung, ein Jobverlust oder Todesfall in der Familie. «Dann geht es meist sehr schnell.»

Wie schnell, das zeigt die Geschichte von Maria (Name geändert). Sie habe ihr Leben lang gearbeitet, erzählt sie, in der Reinigung oder als Aushilfe in der Gastronomie. Während der Coronapandemie kam es zur Kündigung ihres festen Vertrages.

«Der Weg aus der Obdachlosigkeit ist für Betroffene oft steinig»

Eva Gammenthaler, Verein kirchliche Gassenarbeit Bern

Sie arbeitete weiter temporär, hatte aber immer mehr Mühe ihre Rechnungen zu bezahlen, die Krankenkasse, das Abonnement für öffentliche Verkehrsmittel, und dann noch die neue Brille.

Irgendwann reichte das Geld einfach nicht mehr für ihre Zimmermiete, die 800 Franken betrugt. «Also bin ich ausgezogen», sagt Maria. Sie habe keine Betreibung riskieren wollen. Zuerst ging sie zu einer Freundin, seit drei Monaten übernachte sie nun in der Notschlafstelle Sleeper.

Maria wirkt gepflegt, sie trägt eine Handtasche in der einen und eine Einkaufstasche in der anderen Hand. Das Leben auf der Strasse sieht man ihr nicht an. «Ich bringe es fast nicht über die Lippen zu sagen, dass ich obdachlos bin.»

Sie wolle sich nicht beklagen, man müsse sich halt anpassen. Am schwierigsten sei für sie, dass in der Notschlafstelle ständig geraucht werde. Und dass sie jeweils bis 22 Uhr Abends die Zeit totschlagen müsse, bevor sie öffnet.

Sie sei deshalb dankbar, dass es Orte wie das Büro der kirchlichen Gassenarbeit gibt und andere Anlaufstellen, wo man in der Wärme sein und vergünstigt essen könne. Aktuell ist Maria auf Jobsuche, mit Unterstützung des Arbeitslosenamtes komme sie auf 2200 Franken pro Monat. «Ich hoffe, ich finde bald ein neues Zimmer», sagt Maria.

«Der Weg aus der Obdachlosigkeit ist für Betroffene oft steinig», sagt Eva Gammenthaler. Nicht nur aufgrund der steigenden Kosten und des ohnehin schon umkämpften Wohnungsmarktes. Es gebe vor allem seitens der Schweizer Bürokratie viele Hürden. «Man muss ständig Leistungen erbringen, um Unterstützung zu erhalten.»

61 Prozent sind Sans-Papiers

Besonders für Menschen mit Sucht- oder psychischen Erkrankungen sei es oft nicht möglich, den gestellten Forderungen nachzukommen. Andere haben keinen geregelten Aufenthaltsstatus: Laut der Studie der FHNW sind 61% der Betroffenen sogenannte Sans-Papiers und haben daher gar kein Anrecht auf Sozialhilfe.

Wieder andere trauten den staatlichen Institutionen nicht und fragten erst gar nicht nach Unterstützung. Gammenthaler nennt sie «Institutionsgeschädigte».

So ähnlich ergeht es Marco, 42 Jahre, blaue Strickmütze. Er ist mit einem alten Zeitungswagen ins Büro der kirchlichen Gassenarbeit gekommen und hat nach einer Isomatte gefragt. Seit ein paar Jahren mache er wieder «d Gass», wie er sagt.

„Auf der Strasse lässt man mich wenigstens in Ruhe, das ist das Positive am obdachlos sein“

Marco, 42 Jahre, auf der Gasse seit mehreren Jahren

Er spricht von Gewalterfahrungen in frühen Jahren, von Drogenabhängigkeit und von wiederholten Aufenthalten in der Psychiatrie. Seine Erzählung wirkt fragmentiert, die Zusammenhänge geraten oft durcheinander.

«Auf der Strasse lässt man mich wenigstens in Ruhe, das ist das Positive am obdachlos sein», sagt er. Trotzdem hoffe er auf einen Neuanfang, wünsche sich einen Job und natürlich eine Wohnung.

Er kramt aus seiner Jacke kleine Tuben hervor. «Das sind Müsterli aus der Apotheke», sagt er und zeigt Handcreme, Gesichtscreme, Zahnpasta. «Ich möchte wieder mehr zu mir schauen.» Seit drei Tagen habe er wenigstens einen trockenen Schlafplatz gefunden, unter den Lauben in der Berner Altstadt.

Zwerg, Marco und Maria haben unterschiedliche Gründe in die Obdachlosigkeit geführt. Was sie eint ist der Wunsch, baldmöglichst eine Wohnung zu finden.

Basel dreht den Prozess um

Um es ihnen leichter zu machen, sollte man den Spiess umdrehen, meint Eva Gammenthaler. «Das Sozialsystem in der Schweiz ist nicht schlecht», räumt sie ein. «Aber es basiert zu stark auf Kontrollmechanismen.»

Als positives Beispiel nennt sie das Konzept Housing First, das etwa in Finnland oder Wien erfolgreich ist. Dabei bekommen obdachlose Personen als erstes eine Wohnung zugeteilt, bedingungslos, und erst danach wird Schritt für Schritt alles andere geregelt. Als erste Schweizer Stadt hat Basel im Jahr 2020 ein solches Pilotprojekt gestartet.

Aber auch die Gesellschaft sei gefordert sich der Problematik anzunehmen, findet Gammenthaler. «Wir sollten zumindest im Kopf haben, dass es Menschen gibt, die auf den öffentlichen Raum angewiesen sind.»

Es ist 17 Uhr, Zwerg steht auf, schultert seinen roten Rucksack mit der zusammengerollten Matte darin, und geht mit Rabauke hinaus. Wo er heute schlafen wird? Er überlegt kurz und sagt: «Es wird sich schon etwas finden.»

Editiert von Marc Leutenegger

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