Geflüchtet: Ohne Land an die Olympischen Spiele
Zwei in die Schweiz geflüchtete Sportler hoffen, im Rahmen des Refugee Olympic Teams an den Olympischen Spielen in Paris teilzunehmen. Das Team wurde 2016 gegründet und ist inzwischen von 10 auf 29 Athlet:innen angewachsen.
Bevor Habtom Amaniel in die Schweiz kam, schien eine Teilnahme an den Olympischen Spielen für ihn unmöglich. Aufgewachsen mit 12 Geschwistern in Eritrea, lag der Traum vom Profisport in weiter Ferne.
«Ich wusste, dass ich Läufer werden wollte, aber ich lebte in einem kleinen Dorf. Es gab keine Strukturen, keinen Verein, keine Trainer», erinnert sich der 33-Jährige. «Ich bin hauptsächlich gelaufen, um zur Schule zu kommen. Zehn Kilometer hin, zehn Kilometer zurück.»
Amaniel sitzt bequem in seiner leichten Laufkleidung und unterhält sich mit SWI swissinfo.ch in einem Trainingszentrum im Kanton Waadt. Seit er in der Schweiz sei, habe sich einiges verändert, erzählt er.
Er ist einer von vier Flüchtlingssportler:innen, die in der Schweiz leben und trainieren. Wenige Monate vor den Olympischen Spielen in Paris hofft Amaniel, das Flüchtlings-Olympiateam des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) in Frankreich zu vertreten und eine Medaille in seine neue Heimat, die Schweiz, zu bringen.
Ein früher Start
Während Amaniel erst nach seiner Ankunft in der Schweiz mit dem Training begonnen hat, waren andere Flüchtlingssportler:innen in ihren Herkunftsländern schon etablierte Sportler:innen, bevor sie zur Flucht gezwungen werden.
In der syrischen Stadt Aleppo begann Baddredin Wais im Alter von 14 Jahren, an regionalen Radrennen teilzunehmen. Der Jüngste von sieben Geschwistern wurde von seiner Familie zum Radsport inspiriert.
«Ich habe das Fahrrad meines Bruders geklaut», sagt der 33-Jährige mit einem schiefen Lächeln, während er in einem Café in den ruhigen Strassen der Schweizer Hauptstadt Bern sitzt. «Manchmal hatte ich Ärger mit ihm.»
Als erster syrischer Juniorenfahrer, der sich mit 18 Jahren für die Weltmeisterschaften qualifizierte, katapultierte ihn sein Erfolg in die syrische Nationalmannschaft. «Mein Traum war es, an den Olympischen Spielen teilzunehmen und ein Profi zu werden», sagt Wais. Doch der Bürgerkrieg, der das Land seit 2011 erschüttert, hatte seinen Traum zerstört.
Zur Flucht gezwungen
Der Arabische Frühling, eine Welle von Volksprotesten, die auf den Plätzen der Städte Demokratie und einen Regimewechsel forderten, fegte über Nordafrika und den Nahen Osten hinweg. In Syrien wurden die Proteste gewaltsam niedergeschlagen, und das Land versank im Bürgerkrieg.
Wais› Freunde starben oder wurden zum Militärdienst gezwungen. Von der Nationalmannschaft, der er voller Stolz beigetreten war, kam die Hälfte ums Leben. «Gleiches Alter, gleicher Traum, gleiche Leidenschaft … und plötzlich erfuhr ich, dass sie tot waren», erinnert er sich.
Der Konflikt hatte auch direkte Auswirkungen auf ihn. Nachdem Kämpfer:innen 2014 den Bus angegriffen hatten, mit dem er zur Universität fahren wollte, beschloss er zu fliehen. Er überquerte die Landgrenze zum Libanon und gelangte über die Türkei und Griechenland in die Schweiz.
Für Amaniel war es die repressive Politik der eritreischen Regierung, die ihn zur Flucht veranlasste. Er wurde gezwungen, in die eritreische Armee einzutreten, und landete auf unbestimmte Zeit im Gefängnis, nachdem er seine Vorgesetzten wegen Korruption in der Armee zur Rede gestellt hatte. «Es gab keinen Ausweg. Ich hatte das Gefühl, entweder ich sterbe hier oder ich muss gehen», sagt er.
Nur knapp entkam er eritreischen Soldaten und überquerte nach drei Tagen Fussmarsch die Grenze zum Sudan. Von dort aus machte er sich auf den Weg nach Europa.
Die Reise ist gefährlich. Kriminelle Schmuggler, an die man via Mund-zu-Mund-Propaganda kommt, bringen Flüchtlinge wie Amaniel und Wais gegen Bezahlung über die Grenze.
«Das ist manchmal ein brutales Geschäft mit einem hohen menschlichen Preis», sagt Anja Klug, UNHCR-Vertreterin für die Schweiz und Lichtenstein. Den Schmugglern geht es oft mehr um ihr Portemonnaie als um das Leben der Flüchtlinge.
«Sie hatten Gewehre, sie würden dich erschiessen, wenn du sprichst», erinnert sich Amaniel. Er sah, wie einige, mit denen er unterwegs war, aus den Autos gezerrt wurden, mit denen sie über die Grenzen geschmuggelt wurden, und getötet wurden.
Ein neues Leben
Mit Blick auf den Genfersee gehören die in den Himmel ragenden Alpengipfel zu den ersten Eindrücken, an die sich Wais erinnert, als er damals in dem verdächtig stillen Zug sass, der vom Genfer Flughafen abfuhr. Er war von Griechenland aus nach Lausanne geflogen, um bei einem syrischen Freund zu wohnen, den er zu Beginn seiner Radsportkarriere kennengelernt hatte.
Obwohl er zunächst gehofft hatte, sich in Belgien niedelassen zu können, entschied er sich bald, in der Schweiz den Flüchtlingsstatus zu beantragen. Die Ordnung und Sauberkeit des Alpenlandes, seine Neutralität und sein Ruf als Friedensnation hatten es ihm angetan. «Es war der Beginn eines neuen Lebens», sagt er.
Auch wenn das anfängliche Hochgefühl, ein sicheres Land erreicht zu haben, gross ist, sind die Herausforderungen noch nicht vorbei. Viele Flüchtlinge müssen sich durch ein feindseliges Asylsystem kämpfen, und alle müssen sich an das Leben in einem neuen Land gewöhnen.
Eine der grössten Herausforderungen ist das Erlernen der Kommunikation in einer neuen Sprache. Dies ist in der Schweiz, einem Land mit vier Landessprachen und einer Vielzahl von weit verbreiteten Dialekten, besonders schwierig.
Unter diesen Umständen kann Sport ein wertvolles Mittel für Flüchtlinge sein, um sich in ihrer Wahlheimat zu integrieren, die Sprache zu lernen und ein Gefühl der Autonomie wiederzuerlangen, sagt Klug.
Wais, der anfangs kein Wort Französisch oder Deutsch sprach, schloss sich einem kleinen Amateur-Radteam an. «Das Radfahren hat mir sehr geholfen. Ich war jeden Tag mit Schweizern zusammen und habe mich ein bis zwei Stunden unterhalten», erklärt er in seinem mittlerweile mühelosen Schweizerdeutsch.
Der Laufsport half Amaniel, ein Netzwerk von Kontakten vor Ort aufzubauen. Ein Schweizer Sportler und Trainer hatte eine Laufgruppe gegründet, an der sowohl Flüchtlinge als auch Einheimische teilnahmen. «Dadurch habe ich viele Leute kennen gelernt. Für mein soziales Leben in der Schweiz war das eine grosse Hilfe», erklärt er.
Mit der Unterstützung der Gruppe verbesserte sich Amaniels Laufstil. Sein Traum blieb die Teilnahme an den Olympischen Spielen. Doch ein Hindernis stand ihm dabei im Weg.
Auf der Suche nach einem Team
Um an den Olympischen Spielen teilnehmen zu können, müssen die Athlet:innen ein Land vertreten können, sagt Gonzalo Barrio, Manager des Refugee Olympic Team des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Flüchtlinge wie Amaniel und Wais waren deshalb in der Schwebe.
Da sie in die Schweiz geflohen waren, konnten sie ihr Heimatland nicht mehr vertreten. Trotz ihres offiziell anerkannten Flüchtlingsstatus waren sie aber auch keine Schweizer Bürger:innen und konnten somit nicht unter Schweizer Flagge antreten. «Ihre sportliche Karriere lag auf Eis, das war ein echtes Problem», erklärt Barrio.
Die Lösung kam in Form des Refugee Olympic Team. Das 2016 gegründete Team war die erste Möglichkeit für geflüchtete Sportler:innen, sich auf der olympischen Bühne zu messen.
Es folgte die Gründung der Refugee Olympic Foundation (ROF) des IOC und deren Refugee Athlete Scholarships, die monatlich 1500 US-Dollar (1362 Euro) zur Finanzierung von Training und Lebensunterhalt von 70 Stipendiat:innen aus aller Welt zur Verfügung stellen, darunter auch Amaniel und Badreddin.
«Das Ziel war es, den Flüchtlingen die Möglichkeit zu geben, sich auf Spitzenniveau zu messen und die Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen auf der ganzen Welt zu repräsentieren und zu inspirieren», sagt Barrio von seinem Büro in Lausanne, dem Sitz des IOC.
Es folgte die Gründung der Refugee Olympic Foundation (ROF) des IOC und deren Refugee Athlete Scholarships, die monatlich 1500 US-Dollar (1362 Euro) zur Finanzierung von Training und Lebensunterhalt von 70 Stipendiat:innen aus aller Welt zur Verfügung stellen, darunter auch Amaniel und Badreddin.
«Ein ganz besonderes Gefühl»
Zunächst wurden 10 geflüchtete Sportler:innen aus aller Welt vom IOC für die Olympischen Spiele 2016 in Rio ausgewählt. Vier Jahre später traten 29 Geflüchtete bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 2020 in Tokio an. Einer von ihnen war Wais. Nicht bestätigt wurde die Zahl der geflüchteten Athleten:innen in Paris.
Mit seinem 38. Platz im Einzelzeitfahren der Männer war Wais bereits die zweite geflüchtete Person aus der Schweiz, die an Olympischen Spielen teilnahm. «Es war ein ganz besonderes Gefühl», sagt er, «meine Familie und Freunde waren so stolz».
Wais, der in Syrien gesucht wird, weil er das Land verlassen und sich der staatlichen Militärpflicht entzogen hat, hat in den Jahren seit seiner Flucht viele Mitglieder seiner Familie nicht mehr gesehen.
Sein Vater ist bei seiner Ankunft in der Schweiz verstorben. «Meine Hoffnung war es, meinen Vater neben mir zu haben und zu sagen: ‹Wir haben es geschafft, wir sind bei den Olympischen Spielen'», erzählt er.
Laufende Verbesserungen
Trotz der Unterstützung durch das IOC sehen sich geflüchtete Athlet:innen immer noch mit Schwierigkeiten konfrontiert, und werden in einigen Fällen von der Teilnahme an bestimmten Wettbewerben ausgeschlossen.
Während das IOC die Olympischen Spiele organisiert, gibt es unabhängige Sportverbände, die die einzelnen Sportarten verwalten und kleinere internationale Wettbewerbe ausrichten.
Von den 42 internationalen Sportverbänden, die das IOC anerkennt, haben derzeit nur 13 Kategorien, in denen Geflüchtete explizit starten dürfen.
Daher ist es für geflüchtete Athlet:innen unmöglich, an vielen der kleineren Veranstaltungen teilzunehmen, die diese Verbände organisieren. Das benachteiligt sie.
Um auf einem höheren Leistungsniveau konkurrenzfähig zu sein, müsse man auch auf einem niedrigeren Niveau antreten können, betont Wais. Der Zugang zu kleineren Wettbewerben ermöglicht es den Athlet:innen, zu trainieren, Erfahrungen zu sammeln und schliesslich auf der olympischen Bühne erfolgreich zu sein.
Selbst wenn sie zu Wettkämpfen zugelassen werden, kann es vorkommen, dass Flüchtlingssportler:innen die Einreise in ein Land verweigert wird. Das kann aus politischen Gründen geschehen oder weil Grenzbeamte ihre Papiere nicht verstehen und sie abweisen, so Barrio.
Amaniel und Wais sind zwar sehr froh über die Unterstützung des IOC, aber die Gelder reichen nicht aus, um ihnen ein professionelles Training zu ermöglichen.
Neben dem täglichen Training arbeitet Amaniel als Maler, Badreddin einen Tag pro Woche in einem Sportgeschäft in der Berner Altstadt.
Trotzdem sagt Badreddin, dass er sich dank des Stipendiums mehr auf den Radsport konzentrieren kann. Er trainiert nun regelmässig mit einem Team aus Lyon und arbeitet mit der Schweizer Nationalmannschaft zusammen, um an grossen Wettkämpfen teilzunehmen.
Dank der finanziellen Unterstützung konnte er auch an verschiedenen Rennen teilnehmen und belegte kürzlich den 14. Platz in der Mixed-Team-Staffel bei den Radweltmeisterschaften in Glasgow.
Für Amaniel ist die Aussicht auf eine Teilnahme an den Olympischen Spielen 2024 in Paris die Erfüllung seines grössten Traums. «Das ist etwas, wovon ich Tag und Nacht träume. Es geht mir die ganze Zeit durch den Kopf», sagt er lächelnd. «Das ist mein Hauptziel, und ich werde alles dafür tun, um es zu erreichen.»
Editiert von Virginie Mangin/ds. Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger
Mehr
Newsletter
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch