«Ohne Papiere lebt man wie in einem Gefängnis»
In der Schweiz gibt es laut Schätzungen zwischen 70'000 und 180'000 Sans-Papiers. Eine davon ist Annalilia Sanchez. Im Rahmen eines Härtefallgesuchs hat die Kolumbianerin als eine der ganz wenigen Papierlosen nach 14 Jahren eine Aufenthaltsbewilligung erhalten.
«Die Aufenthaltsbewilligung ist das beste Geschenk, ich kann es immer noch nicht glauben», sagt die 41-jährige Annalilia Sanchez* und ihre Augen strahlen.
Die Angst entdeckt und ausgeschafft zu werden, die sie all die Jahre begleitete und mit der sie zu leben gelernt hatte, stecke noch immer in ihren Knochen. «Begegne ich Polizisten oder klingelt es unerwartet an der Haustür, durchfährt mich noch immer ein Schock.»
«Ohne Papiere lebt man wie in einem Gefängnis», sagt die zierliche Frau mit den kleinen goldenen Ohrringen und den dunklen zusammengebundenen Locken in Jeans und grauer Trainerjacke. Man könne weder eine Wohnung mieten, noch ein Handy lösen, geschweige denn zum Arzt gehen.
Sie erzählt von einer Kollegin, die einen Beinbruch erlitt und sich nicht traute, ins Spital zu gehen. Dank der Unterstützung der Beratungsstelle für Sans-Papiers sei sie seit ein paar Jahren bei einer Krankenkasse versichert, sagt Annalilia Sanchez sagt in sehr gutem Deutsch, das sie in den Jahren in der Schweiz «erarbeitet» hat.
«10 Franken für vier Worte»
Sie habe nicht viel Ahnung von Politik, und ihr sei klar, dass es schwierig sei, alle Einwanderer zu «legalisieren». Doch ihrer Ansicht nach müsste man jeden Fall einzeln untersuchen. «Wir sind nicht Sans-Papiers, wir sind Menschen mit einem Herz und einer Familie.» Sanchez versteht auch nicht, weshalb Ausländer nicht im Haushalt oder im Garten aushelfen dürfen, für diese Arbeiten würden sich ja sowieso kaum Schweizer finden.
Der Arbeit wegen kam Annalilia Sanchez vor 14 Jahren denn auch in die Schweiz. Als ihre Cousine, die in der Schweiz eine Putzstelle hatte, ein Kind erwartete, sprang sie für diese ein. So habe sie sich allein in einer kleinen Mansarde ohne Küche und Dusche wiedergefunden, ohne Familie und ohne die Sprache des Landes zu sprechen.
Für ein Gespräch in die Heimat konnte sie sich in der ersten Zeit höchstens eine Taxcard im Wert von 10 Franken leisten, wobei nach drei, vier Worten mit Mutter und Tochter bereits das Piepen des Telefons ertönte. «Ich habe anfangs viel geweint, doch das auf mich selbst gestellt sein hat mich auch stark gemacht», so Annalilia Sanchez.
Hohen Preis bezahlt
Annalilia Sanchez kommt aus armen Verhältnissen. Als die Mutter, die als Wäscherin arbeitete – nicht mit der Waschmaschine, sondern mit Stein und Seife – erkrankte, musste Annalilia Sanchez die Schule abbrechen und arbeiten. Ihr Vater verunfallte mit 49 Jahren tödlich. Die Mutter und ihre sechs Kinder waren ohne Geld und Perspektiven.
Annalilia Sanchez, alleinerziehend und ohne Ausbildung, wollte, dass es ihrer Tochter einmal besser geht als ihr. Der Preis, den sie dafür bezahlte, war hoch, konnte die Tochter, die bei ihrer Mutter in Kolumbien blieb, sie in alle den Jahren doch nur drei Mal in der Schweiz besuchen. «Ich dachte all die Zeit immer an sie. Das gab mir Kraft», sagt Annalilia Sanchez.
Dank ihrer Arbeit als Putzfrau bei einer Arztfamilie konnte sie ihre Mutter finanziell unterstützen und die Schule für ihre Tochter bezahlen. «Wenn ich in Kolumbien geblieben wäre, hätte ich meiner Familie nicht helfen können.»
Schweiz ist ein eher trauriges Land»
Doch für Annalilia Sanchez ist klar: «Die Schweiz ist nicht für alle gemacht.» Sie kenne viele Ausländer, die mit dem Mentalitäts- und Klimawechsel nicht zurechtkämen, die Depressionen hätten. «Die Schweiz ist im Gegensatz etwa zu Kolumbien eher ein trauriges Land». Die Leute hier würden nicht viel lachen, die Sonne scheine wenig und die Strassen seien häufig menschenleer.
«Viele Leute in der Schweiz haben viel Geld, aber wenig Motivation, etwas aus ihrem Leben zu machen», so Annalilia Sanchez. «Doch weshalb soll ich nicht mit einem Lächeln durchs Leben gehen? Ich bin gesund, habe eine Arbeit, ein warmes Bett und eine warme Suppe – das haben nicht alle.»
Die Frage, ob sie selbst als Papierlose mit Diskriminierungen konfrontiert oder ausgenutzt worden sei, verneint sie. Nach langem Schweigen erzählt sie aber von Sans-Papiers, die schwarz gearbeitet hätten und dafür von ihren Auftraggebern nicht bezahlt worden seien. So sei es auch einer Kollegin von ihr ergangen, einer Schneiderin, die für eine Kundin in Tag- und Nachtarbeit Kleider und Vorhänge im Wert von rund 6000 Franken gefertigt habe.
Traum vom eigenen Haus in «zweiter Heimat»
Annalilia Sanchez› Tochter ist mittlerweile erwachsen, sie kann ihr Leben als Flight Attendant selbst verdienen.
Doch Annalilia Sanchez sieht ihre Zukunft in der Schweiz und nicht in Kolumbien. Sie hofft, dass sie mit der Aufenthaltsbewilligung vielleicht eine Stelle in einem Spital oder in einer Fabrik finden kann. Ihr Traum ist ein eigenes Haus ausserhalb von Bern, ihrer «zweiten Heimat».
Durch die Einführung des Drei-Kreise-Modells in der Schweizer Ausländerpolitik im Jahr 1992 haben wenig qualifizierte, arbeitssuchende Menschen aus Ländern ausserhalb der Europäischen Union keine Möglichkeit mehr, in der Schweiz eine Arbeitsbewilligung zu erhalten.
Für die Sans-Papiers in der Schweiz ist es damit praktisch auch unmöglich, ihre Situation zu «legalisieren».
Dies führte dazu, dass sich Papierlose in Kollektiven zu organisieren begannen und an die Öffentlichkeit traten.
Anfang Juni 2001 besetzte eine Gruppe von Sans-Papiers eine Kirche in Freiburg und lancierte ein Manifest, in dem die kollektive Regularisierung aller Sans-Papiers gefordert wurde.
Im November 2001 fand eine gesamtschweizerische Demonstration für die «kollektive Regularisierung aller Sans-Papiers» vor dem Bundeshaus in Bern statt.
Sämtliche Regulariesierungsvorstösse wurden in der darauffolgenden Debatte im Nationalrat abgelehnt.
Im Dezember 2001 wurde ein neues Rundschreiben der Polizeidirektorenkonferenz bekannt, das sogenannte «Rundschreiben Metzler». Dieses beschreibt, unter welchen Voraussetzungen einzelne Härtefallbewilligungen erteilt werden könnten.
Laut der Sans-Papiers-Beratungsstellen der Deutschschweiz erhielten dadurch von 2001 bis 2007 lediglich etwa 2000 Papierlose eine Aufenthaltsbewilligung.
*Name der Redaktion bekannt
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