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Pakistan: «Regierung und Armee sind überfordert»

Hundertausende Flutopfer sind auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. AP Photo/Mohammad Sajjad

Kaputte Infrastruktur, verschmutztes Trinkwasser, Seuchengefahr: die Dimension der Flut-Katastrophe sei riesig, die Regierung überfordert. So beschreibt Sher Zaman, der für das Schweizer Fairtrade Label "Step" arbeitet, die Lage in seinem Land.

In Pakistan haben über 1500 Menschen in den Fluten ihr Leben verloren, Tausende verloren ihr Obdach, Zehntausende mussten evakuiert werden. Hunderttausende sind auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Über drei Millionen sind laut der UNO von den Hochwassern betroffen. Es drohen Seuchen und Hungersnot, die Hitze ist unerträglich.

Sher Zaman erläutert im Gespräch mit swissinfo.ch die schwierige Lage, in der sich sein Land infolge der schweren Überschwemmungen befindet. Der 42-jährige Paschtune aus der Region von Peschawar kontrolliert für das Teppich-Label «Step» in Basel die Arbeitsbedingungen der Handteppichknüpfer in Pakistan und Afghanistan.

swissinfo.ch: Sie leben in Peshawar, der Hauptstadt der von den Überschwemmungen schwer betroffenen Provinz Khyber Pakhtunkhwa. Sie waren in den letzten Tagen in der Provinz unterwegs. Wie sieht es aus?

Sher Zaman: Die Infrastruktur ist zerstört. In Charsada und Nowshehra, rund 30 km entfernt von Peshawar, sind 25 Brücken überflutet und beschädigt, Strassen verschüttet, die Kommunikations-Verbindungen sind unterbrochen, der Eisenbahnverkehr steht still, da die Geleise unter Wasser stehen.

In den letzten Tagen gab es hier keine Elektrizität und kaum Treibstoff. Die meisten Leute haben ihre Häuser verloren, vielerorts strömt das Wasser in die Häuser. Kühlschränke, Fernsehapparate, Kleider – alles kaputt und verloren.

swissinfo.ch: Wie steht es um die Gesundheit der Menschen? Die Hilfswerke befürchten, es könnten sich Seuchen wie Cholera ausbreiten.

S.Z.: Nicht nur Cholera, auch andere Seuchen drohen. Viele Menschen leiden an Darmerkrankungen und Durchfall, denn das Wasser ist total verschmutzt. Das Flutwasser vermischt sich mit dem Trinkwasser.

Vielerorts ist die Trinkwasserversorgung zusammengebrochen. An einigen Orten werden zwar Trinkwasser-Flaschen abgeworfen, aber das reicht nicht aus.

swissinfo.ch: Gibt es Notunterkünfte für die Flutopfer?

S.Z.: Ja, in einigen Orten gibt es Zelte und Einrichtungen, die von Armee und Freiwilligen betreut werden. Die Leute werden aus den betroffenen Dörfern und Gebieten evakuiert.

Im Bezirk Charsada habe ich eben ein staatliches College gesehen, in dem 6000 Menschen untergebracht sind.

swissinfo.ch: Haben die Menschen genug zu essen?

S.Z.: Regierung und Armee versuchen, die Bevölkerung zu versorgen. Sie sind aber von dieser immensen Katastrophe völlig überfordert.

Aus den USA trafen 6 Helikopter ein, um zu helfen. Aber die Bevölkerung ist so zahlreich, dass es einfach nicht genug für alle hat. Botschaften verschiedener Länder unterstützen uns ebenfalls. Aber es scheint unmöglich, alle zu erreichen, vor allem in abgelegenen Regionen.

swissinfo.ch: Man hört von 3 Millionen Menschen, die von den Überschwemmungen betroffen sind. Stimmt diese Zahl?

S.Z.: Die pakistanische Regierung hat von einer Million Betroffener gesprochen, während Nichtregierungs-Organisationen, die in den Katastrophengebieten vor Ort sind, von mindestens drei Millionen ausgehen. Und die Zahl dürfte in den nächsten Tagen noch steigen.

swissinfo.ch: Wie geht die pakistanische Regierung mit der Bewältigung der Flutkatastrophe um?

S.Z.: Es ist unser Pech, dass die pakistanische Regierung zu wenig Know-how hat und schlecht auf eine solche Situation vorbereitet ist. Alleine bekommt die Regierung diese Lage nicht in den Griff. Es hat zwar Minister, Politiker, Armeeangehörige und verschiedene Institutionen, die sich einsetzen, aber das Problem ist riesig.

Viele Gegenden sind ohne Helikopter gar nicht erreichbar. Zudem hat die Regierung nicht genügend Helikopter, um jede Region, jedes Dorf, jedes Haus und jede notleidende Familie zu erreichen.

Das hat zur Folge, dass die Leute zunehmend frustriert sind und ihren Groll gegenüber der Regierung äussern. Das kann ich verstehen.

swissinfo.ch: Dann ist Pakistan also dringend auf internationale Hilfe angewiesen?

S.Z.: Ja, aber das Merkwürdige ist, dass ich bisher wenig von grossen Organisationen oder Gemeinschaften wie der EU gehört haben, die vor Ort im Einsatz sind. Kleine ausländische Hilfswerke leisten vielleicht Hilfe. In der Gegend, wo ich war, habe ich aber keine ausländischen Organisationen gesehen.

swissinfo.ch: Wie informieren Sie sich zur Zeit über das Geschehen im Land?

S.Z.: Ich informiere mich übers Mobiltelephon. Und Fernsehstationen aus Lahore und Islamabad überfliegen das Katastrophengebiet, haben Reporter vor Ort und berichten über die Lage dort. Je nachdem, wo man sich aufhält, hat man Zugang zum Fernsehen. Das gleiche gilt fürs Internet.

swissinfo.ch: Pakistan wird immer wieder von Naturkatastrophen heimgesucht. Ist die jetzige eine Jahrhundertflut, wie es heisst?

S.Z.: Gemäss der pakistanischen Überschwemmungs-Kommission (Federal Flood Commission) ist es die schlimmste Flutkatastrophe seit 50 Jahren. Seit dem schweren Erdbeben von 2005 mit Zehntausenden von Toten ist es die schwerste Naturkatastrophe, die ich erlebt habe.

Gaby Ochsenbein, swissinfo.ch

Die Vereinten Nationen schicken einen Sondergesandten in die pakistanischen Überschwemmungsgebiete, um ein Bild von der Lage und den Schäden zu bekommen.

Der frühere französische UNO-Botschafter Jean-Maurice Ripert soll die humanitäre Lage bewerten und den Bedarf an Hilfsgütern ermitteln.

Ripert ist derzeit für humanitäre Fragen in Pakistan zuständig.

Von den Überschwemmungen im Nordwesten Pakistans sind nach UNO-
Angaben mehr als drei Millionen Menschen betroffen, darunter 1,4
Millionen Kinder.

Nach Angaben der Verwaltung der schwer betroffenen
Provinz Khyber Pakhtunkhwa starben bereits etwa 1600 Menschen in den
Wassermassen.

Der Paschtune lebt in Peschawar, Pakistan.

Der 42-Jährige hat in Bangkok, Thailand, Menschenrechte und Politikwissenschaften studiert.

Danach arbeitete er für verschiedene Nichtregierungs-Organisationen (NGO).

Seit 2003 ist er für das Fairtrade Label «Step» in Basel tätig: Er kontrolliert die Arbeitsbedingungen der Handteppichknüpfer in Pakistan und Afghanistan (Arbeitszeiten, Kinderarbeit, Rechte der Frauen).

Auf freiwilliger Basis ist er auch für die Organisation SESWA, eine Sozialarbeiter-Vereinigung, tätig. Für diese nimmt er zur Zeit an Hilfsaktionen in den Katastrophengebieten teil.

Glückskette Postkonto 10-15000-6 Vermerk «Überschwemmungen Asien»),
UNICEF Postkonto 80-7211-9 (Vermerk: Nothilfe Pakistan)

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