Politik an der Schule
Während der Kanton Glarus das Stimm- und Wahlrecht auf 16 Jahre senken will, besagt eine unvollendete Studie, dass 15-jährige Schüler wenig Ahnung vom politischen System der Schweiz hätten.
Nicht so an einer Schule in Bern, wo eine 9. Klasse in einer Projektwoche Politik hautnah miterlebte.
«Die Meldung, dass Neuntklässer ungenügend über das politische System in der Schweiz informiert seien, erreichte unser Klassenteam mitten in der Projektwoche zum Thema ‹Bausteine der Demokratie› Ende Oktober», sagt Peter Belina, Lehrer an der Oberstufe der Bitzius-Schule in Bern, gegenüber swissinfo.
Er kenne die Studie zwar nicht, könne sich aber vorstellen, dass die Frage nach den drei Gewalten in der Schweiz von den Jugendlichen falsch verstanden wurde: «Sie dachten an brachiale Gewalt und nannten dann Militär, Polizei und Gefängnisse statt Bundesrat, National- und Ständerat sowie Bundesgericht.»
Die Oberstufe der Bitzius-Schule führt jedes Jahr eine politische Themenwoche durch. Dieses Mal konnten die Neuntklässler einen Blick hinter die Kulissen der Stadtberner Politik werfen.
Politik zum Anfassen
Ein Regierungsmitglied erklärte der Klasse, was regieren bedeutet. Im Berner Rathaus konnten die Schüler und Schülerinnen eine Sitzung des Stadtparlaments mitverfolgen. Zudem erläuterte ihnen der Präsident des Jugendgerichts Fälle aus seinem Berufsalltag.
«Wir hatten auch eigene Fälle konstruiert, die wir dem Gerichtspräsidenten vorlegten: es ging um Drogendelikte, Jugendgewalt, Ladendiebstahl und Vandalismus; Bereiche, die den Jugendlichen bekannt sind», sagt Belina.
Daphne, Lula, Melina, Gionathan und die anderen 18 Mitschülerinnen und –schüler haben in dieser Woche eine Menge über die Geschichte der Demokratie, verschiedene Staatsformen und politische Prozesse erfahren. Ihr Interesse ist geweckt.
«Zuerst dachte ich, das wird bestimmt langweilig. Ich habe aber viel über die einzelnen Parteien und die verschiedenen Zuständigkeiten der Politiker gelernt. Ich weiss jetzt konkret, wie Politik funktioniert», betont Lula.
«Das war wirklich Politik zum Anfassen, nicht nur etwas, was in der Zeitung steht oder man am Radio hört», so der 15-jährige Gionathan. Etwas respektlos fand er, dass die Parlamentarier während der Sitzung im Rathaus nicht still und diszipliniert waren, sondern schwatzten, Zeitung lasen oder Musik hörten.
Für die gleichaltrige Melina ist klar, dass Politik die Bedürfnisse der Bevölkerung durchsetzen muss. «Da nicht immer alle derselben Meinung sind, muss es Abstimmungen geben, das ist Demokratie.»
Jugendlicher Zugang zu Politik
Daphne hat in dieser auch Woche erfahren, wie kompliziert politische Prozesse sind. Ein spannendes Thema, das alle betreffe. «Uns Jugendliche ganz besonders. Es geht um unsere Zukunft. Auch junge Leute müssen ihre Meinung abgeben.»
Es brauche mehr Junge, die sich für Politik interessierten, sagt auch Lula. «Sonst müssen wir ausbaden, was die Alten bestimmen. Vielleicht sollte es zwei Parlamente geben. Eines für Junge und eines für Alte.»
Verschiedene Sichtweisen und Kompromisse seien unbedingt nötig, betont Gionathan. «Ich glaube nicht, dass es besser würde, nur weil mehr Junge mitbestimmen. Sie sind oft zu rebellisch und unerfahren. Es braucht einen Mix.»
Die Vier wollen denn auch abstimmen und wählen oder sich gar politisch engagieren, wenn sie einmal mündig sind. In drei Jahren ist es soweit.
Die Unerfahrenheit der Jugend
Im Kanton Glarus können künftig schon 16-Jährige abstimmen und wählen. Lehrer Belina will kein Pauschalurteil dazu abgeben, ob Jugendliche in diesem Alter reif dazu wären, hat aber seine Zweifel.
«Die Vorlagen sind oft komplex, die Jungen noch unerfahren.» Zudem müsse bei ihnen immer alles schnell gehen. «Ein demokratischer Prozess verläuft aber langsam, braucht Geduld und Kompromisse.»
Nach Meinung des Neuntklässlers Gionathan sind die Jungen in Sachen Politik zu unerfahren. Dies auch, weil politische Themen und Zusammenhänge im Schulunterricht zu kurz kämen. Die Dinge müssten besser erklärt werden, weil man sich sonst nicht beteiligen könne.
«Vor den Abstimmungen sieht man überall die Plakate der Parteien. Man denkt dann vielleicht, diese Vorlage ist schlecht, weil die Partei rechts steht, weiss aber eigentlich wenig darüber.»
Der Reiz der Politik
Für Lehrer Belina ist unbestritten, dass Politik in die Schule gehört «Man muss die Schüler aber dort abholen, wo sie stehen.»
Dank dem Anschauungsunterricht vor Ort haben Daphne, Melina, Gionathan und Lula gemerkt, dass Politik etwas Lebendiges ist, dass mit politischem Engagement Ideen umgesetzt werden können und «dass jede Meinung zählt», wie Daphne sagt.
swissinfo, Gaby Ochsenbein
Gemäss einer noch nicht veröffentlichten Studie der Pädagogischen Hochschulen Bern, Zürich und Aargau haben 15-jährige Schülerinnen und Schüler sehr begrenzte Kenntnisse über das politische System in der Schweiz.
Von rund 1500 Neuntklässlerinnen und Neuntklässlern aus den Kantonen Zürich, Bern und Aargau wusste zwar mehr als die Hälfte, dass die Exekutive in der Schweiz Bundesrat heisst. Wie die Legislative heisst, wussten nur gerade 10%. Niemand konnte die drei Gewalten auf Bundesebene nennen.
Die Studie «Geschichte und Politik im Unterricht» soll im Juni 2007 abgeschlossen sein.
Vor zwei Jahren landeten Schweizer Schüler in der internationalen Studie «Civic education» im Vergleich mit 29 Ländern auf dem 19. Platz. Die Schülerinnen und Schüler der lateinischen Schweiz hatten deutlich besser abgeschnitten.
Als erster Kanton der Schweiz hat Glarus das aktive Stimm- und Wahlrechtsalter eingeführt. 16-Jährige können künftig abstimmen und wählen.
In politische und richterliche Behörden gewählt werden sollen aber weiterhin nur Volljährige (ab 18).
Die Vorlage geht auf einen Antrag der Glarner Jungsozialisten zurück.
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