Protest gegen Festnahme von Genozid-Leugner
Die Türkei hat die Schweiz nach der vorübergehenden Festnahme eines türkischen Politikers wegen möglicher Verletzung der Antirassismus-Strafnorm kritisiert.
Gegen den Vorsitzenden der türkischen Arbeiterpartei wird ermittelt, weil er in der Schweiz öffentlich den Völkermord an den Armeniern geleugnet hat.
«Wir können nicht tolerieren, dass mit dem Vorsitzenden einer politischen Partei der Türkei so umgegangen wird», zitierte die türkische Zeitung «Hürriyet» Aussagen des türkischen Aussenministers, Abudllah Gül. Ein derartiges Vorgehen passe nicht zur Schweiz und deren Grundsatz der Meinungsfreiheit.
Der grüne Genfer Nationalrat Ueli Leuenberger seinerseits forderte den Bundesrat in einem Communiqué auf, bei der Regierung in Ankara vorstellig zu werden. Derartige Provokationen auf Schweizer Boden müssten aufhören.
«Lüge der Imperialisten»
Doğu Perinçek, der Vorsitzende der nationalistischen türkischen Arbeiterpartei, geriet am Wochendende ins Visier der Zürcher und Waadtländer Justiz.
Perinçek war am Freitag zusammen mit 300 Landsleuten in die Schweiz gereist, um den Vertrag von Lausanne zu feiern, mit dem 1923 der türkische Staat gegründet wurde. Die Feier fand vor dem Hintergrund der Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU statt, die im Oktober beginnen sollen.
Bei einer von der Kantonspolizei Zürich aufgezeichneten Medienkonferenz stellte Perinçek den Völkermord an den Armeniern als «Lüge von Imperialisten» dar.
Damit verletzte er nach schweizerischer Rechtsauffassung die Antirassismus-Strafnorm. Weil Verstösse gegen diese Norm als Offizialdelikt gelten, nahm die Zürcher Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen Perinçek auf, wie die Kantonspolizei mitteilte.
Zwei Stunden lang befragt
Der türkische Politiker wurde am Samstag am Rande einer Podiumsveranstaltung in Winterthur während über zwei Stunden vom Staatsanwalt befragt, wie ein Kapo-Sprecher auf Anfrage sagte. Perinçek sei freiwillig mitgegangen und habe sich danach wieder seiner Gruppe angeschlossen.
Ob die in Winterthur am Samstag in türkischer Sprache gemachten Aussagen ebenfalls gegen die Antirassismus-Strafnorm verstossen, ist laut dem Kapo-Sprecher noch nicht klar. Die Auswertungen seien noch nicht abgeschlossen. Am Freitag jedenfalls sei Perinçeks Aussage der einzige Verstoss gewesen.
Perinçek ist nach einem Bericht der Tageszeitung «24 Heures» auch im Visier der Waadtländer Strafverfolgungsbehörden. Die Gesellschaft Schweiz-Armenien habe gegen den Mann Strafanzeige wegen Rassendiskriminierung eingereicht, weil er sich schon im Mai dieses Jahres in Lausanne in ähnlicher Weise geäussert habe.
Armenierfrage scheidet Schweiz und Türkei
Die Türkei und die Schweiz liegen sich wegen der Armenier-Frage seit 2003 in den Haaren. Damals entschied das Waadtländer Kantonsparlament, den Mord an den Armeniern von 1915 als Genozid anzuerkennen. Drei Monate später folgte auf Bundesebene der Nationalrat diesem Entscheid.
Die offizielle Türkei bestreitet, dass es sich bei den Ereignissen von damals um einen Genozid handelte, und betont, dass es auf beiden Seiten Opfer gegeben habe. Es sei zu Deportationen gekommen, nicht aber zu einem Völkermord.
Nach der Abstimmung im Waadtland hatte Ankara eine Einladung an die Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey zurückgezogen. Der Besuch in der Türkei fand dann schliesslich im letzten März statt, nachdem sich die Situation etwas entspannt hatte.
Im letzten Juni sagte der türkische Handelsminister, Kürsad Tüzmen, seine Teilnahme am «Swiss-Turkish-Business-Council» (STBC) in der Schweiz ab. Tüzmen begründete seinen Rückzug mit den Vorermittlungen der Justiz in Winterthur gegen den türkischen Historiker Yusuf Halacoglu, der den Armenier-Genozid verharmloste.
Kundgebungen ohne Zwischenfälle
Die Kundgebungen von Türken und Kurden zum Jahrestag der türkischen Staatsgründung 1923 fanden am Sonntag an zwei verschiedenen Orten in Lausanne statt und verliefen ohne Zwischenfälle.
Im Stadtzentrum von Lausanne versammelten sich am Sonntag ihrerseits ungefähr 300 Kurden, Armenier und Assyrer vor dem Palais de Rumine. Dort war am 24. Juli 1923 der Vertrag von Lausanne unterzeichnet worden. Die Demonstranten prangerten den Vertrag von Lausanne an. Dieser habe die Hoffnung auf Freiheit für alle Minderheiten in der Türkei zerschlagen.
swissinfo und Agenturen
Der Friedensvertrag von Lausanne wurde 1923 zwischen den europäischen Staaten und der türkischen Nationalversammlung abgeschlossen.
Er legte die Grenzen der jungen türkischen Republik fest, die von Mustafa Kemal Atatürk geführt wurde.
Juden, Griechen und Armenier erhielten den Status von Minderheiten.
Die Kurden wurden jedoch nicht als eigenes Volk anerkannt.
Die Armenier-Frage hat erneut zu Unstimmigkeiten zwischen der Schweiz und der Türkei geführt.
Ankara protestierte gegen die vorübergehende Festnahme eines türkischen Politikers. Er wird verdächtigt, die Antirassismus-Strafnorm verletzt zu haben.
An öffentlichen Versammlungen in der Schweiz leugnete Doğu Perinçek wiederholt den Völkermord an den Armeniern.
Die unterschiedliche Interpretation der Ermordung von 800’000 bis zu 1’800’000 Armeniern zwischen 1915 und 1918 durch türkische Truppen führte seit 2003 immer wieder zu diplomatischen Spannungen zwischen Bern und Ankara.
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