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Richter sollen das letzte Wort haben

Zur Krönung seiner Karriere ist Giorgio Malinverni Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geworden. swissinfo.ch

Wer soll das letzte Wort haben: Das Volk, das Parlament oder die Richter? Die Erfahrung zeigt, dass das Volk Entscheide fällen kann, die gegen die Grundrechte verstossen.

«Das Volk kann sich irren», sagt Giorgio Malinverni, Schweizer Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Deshalb sollten die Richter das letzte Wort haben.

Giorgio Malinverni weilte kürzlich auf Einladung der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz auf dem Monte Verità bei Ascona.

Im Gespräch mit swissinfo äussert sich der bekannte Richter zur aktuellen Debatte über Volks- und Völkerrechte, zur Verwahrungsinitiative und einem möglichen Minarett-Verbot im Zusammenhang mit den Menschenrechten.

swissinfo: In der Schweiz wird heftig über die Bedeutung der Volksrechte debattiert. Justizminister Christoph Blocher sagt, das Volksrecht sei wichtiger als das Völkerrecht. Das Volk sei der Souverän. Was meinen Sie dazu?

Giorgio Malinverni: Darüber kann man diskutieren. Ist die direkte Demokratie wichtiger als die Bewahrung der individuellen Freiheit?

Es geht letztlich immer um die Frage, wer das letzte Wort haben soll.

swissinfo: Wer soll das letzte Wort haben?

G.M.: Lange war man der Auffassung, das Parlament als Repräsentant des Volkes habe das letzte Wort.

Dann entstanden am Anfang des 20. Jahrhunderts die ersten Verfassungsgerichtshöfe. Diese können seither feststellen, ob das Parlament einen Fehler begangen hat.

Was Blocher anspricht, ist somit die Frage, wer in letzter Instanz entscheidet. Das Volk oder die Richter? Die Entscheide des Bundesgerichts zu den Einbürgerungsfragen in Emmen zeigen, dass das Volk in einigen Fällen Fehler begehen kann.

swissinfo: Die SVP hat aus diesem Grund die Einbürgerungsinitiative lanciert. So soll das Volk das letzte Wort erhalten?

G.M.: Das Parlament will dieser Initiative nicht folgen.

swissinfo: Aber wenn das Volk diese Initiative am Ende in einer Volksabstimmung annimmt, gerät man in eine Sackgasse?

G.M.: Das kann sein. Die Frage ist wieder: Entscheiden am Ende die Volksvertreter oder die Richter. Als die ersten Verfassungsgerichtshöfe in Europa entstanden, sprachen einige Kommentatoren von «Regierungen der Richter».

swissinfo: Was ist Ihrer Meinung nach besser?

G.M.: Die Richter, aber ich sage dies nicht, weil ich seit einigen Monaten selber Richter bin. Ich denke einfach, das Volk kann sich irren. Aber natürlich kann auch mal ein Richter irren.

swissinfo: Derzeit wird heftig über die Vereinbarkeit der Gesetze mit der Europäischen Menschenrechtskonvention EMK diskutiert. Lässt sich die Verwahrungsinitiative mit der EMK vereinbaren?

G.M.: Es ist nicht ausgeschlossen, dass eines Tages eine auf Lebenszeit verwahrte Person einen Rekurs in Strassburg einreicht.

Dann wird der Europäische Gerichtshof entscheiden, ob diese Gesetzgebung tatsächlich mit der Menschenrechtskonvention vereinbar ist. Und die Schweiz wird sich anpassen müssen.

swissinfo: In der Schweiz gibt es diverse Initiativen für Minarettverbote. Auch bei diesem Thema liegt ein Konflikt mit den Menschenrechten und insbesondere der Religionsfreiheit vor.

G.M.: Die Religionsfreiheit muss für alle gelten. In der Schweiz sind die Muslime nach den Christen die zweitgrösste Religionsgruppe.

Sie haben ein Recht auf ihre Gotteshäuser. Wir haben unsere Kirchen. Es ist nicht zu verstehen, warum die Muslime nicht ihre Kultstätten und Minarette haben sollten.

swissinfo: Viele Bürger fühlen sich bedroht.

G.M.: Man muss sich an die multikulturelle Gesellschaft gewöhnen. Wir können keine Mauer um die Schweiz bauen, in der Hoffnung, dass keine Immigration stattfindet. Die Schweiz ist schon traditionell multikulturell und mehrsprachig. Das wird noch weiter zunehmen.

swissinfo: Die SVP als grösste Partei im Land und Regionalparteien wie die Lega dei Ticinesi im Tessin diskreditieren die europäischen Institutionen ständig. Stört Sie das?

G.M: Es ist nachvollziehbar. Denn es gibt starke Veränderungen in der Gesellschaft. Und das gefällt den Leuten nicht, insbesondere den Älteren. Sie sperren sich dagegen. Aber an den Veränderungen geht kein Weg vorbei. Wir bewegen uns in Europa immer stärker auf ein «jus comune europeum», ein Gemeinschaftsrecht, zu.

swissinfo: Ständerat Dick Marty sagt, der Europäische Gerichtshof sei Opfer seines Erfolgs. Die Zahl der Eingaben nimmt ständig zu.

G.M.: Das stimmt. Aber leider funktioniert die Rechtsprechung in vielen Mitgliedsländern nicht besonders gut, insbesondere in Osteuropa.

Viele Personen aus diesen Ländern haben das Gefühl, erstmals mit einem wirklich unabhängigen Gericht zu tun zu haben, wenn sie sich an Strassburg wenden.

Erreicht man, dass der eigene Staat verurteilt wird, ist das natürlich ein gewisser Affront für den Staat, der die eigenen Gesetze erlassen hat.

Die Schweiz ist beispielsweise letztes Jahr neun Mal verurteilt worden. Aber ich bin überzeugt, dass alle diese Urteile gerechtfertigt waren.

swissinfo: Wie kamen Sie eigentlich zu ihrer Leidenschaft für die Menschenrechte?

G.M.: Ich habe 1974 mit der Lehre begonnen. Das war im Jahr, als die Schweiz die Menschenrechtskonvention ratifizierte. Ich habe mich sofort dafür interessiert und seither hat mich dieses Thema nicht mehr los gelassen.

Die Wahl zum Richter am Gerichtshof für Menschenrechte war für mich wie die Krönung meiner Laufbahn.

swissinfo, Gerhard Lob, Ascona

Der Rechtswissenschafter Giorgio Malinverni (66) wurde 2006 von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zum Richter der Schweiz am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gewählt.

Er war seit 1980 Professor für Verfassungsrecht, Internationales Recht und internationale Menschenrechte an der Universität Genf.

Malinverni trat seine Tätigkeit Mitte Januar 2007 an und folgte auf Luzius Wildhaber. Die entsendeten Richter müssen nicht notwendigerweise Richter der Unterzeichnerstaaten sein.

Dies erklärt, warum es mit Mark Villiger einen zweiten Schweizer Richter am EGMR gibt – er vertritt Liechtenstein.

Giorgio Malinverni wurde am 3.Oktober 1941 in Domodossola (Italien) geboren, ist aber Schweizer Bürger mit Heimatort Locarno. Er ist verheiratet und Vater von drei Kindern.

Der 1959 gegründete Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg überprüft Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Jedes Europaratsmitglied – 47 Staaten – verfügt über einen Richtersitz im EGMR. Die offiziellen Sprachen sind Englisch und Französisch. Die Rekurse können in den jeweiligen Landessprachen eingereicht werden.

Die Zahl der Eingaben beim EGMR hat in den letzten Jahren ein exponentielles Wachstum verzeichnet. Bis zum Ende der 1980er Jahre fällte der EGMR nur rund vier Urteile pro Jahr. Inzwischen gehen jährliche rund 50’000 Rekurse ein – doch 90% werden als nicht verhandelbar zurückgewiesen.

Aus der Schweiz gehen im Jahr rund 100 Beschwerden ein, häufig geht es um Versammlungs- und Meinungsäusserungsfreiheit. 2006 wurde die Schweiz in neun Fällen verurteilt.

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