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Sachliche Analyse statt Sicherheits-Hysterie gefragt

Die Tötung des 16-jährigen Au-Pair-Mädchens Lucie in Baden löste Trauer aus, aber auch Wut. Keystone

Der Mord an einer 16-Jährigen durch einen einschlägig vorbestraften Mann wirft erneut die Frage nach der Verwahrung kranker Gewalttäter auf. Der forensische Psychiater und Gutachter Andreas Frei zeigt im Gespräch mit swissinfo, wo die Probleme liegen.

Die grausige Tat im aargauischen Baden von letzter Woche hat die Schweizer Öffentlichkeit aufgewühlt. Der 25-jährige Täter war einschlägig bekannt: Bereits 2003 hatte er unter Drogeneinfluss eine Frau fast umgebracht.

Dass er im letzten Sommer zwar auf Bewährung, aber ohne erneute Begutachtung freikam, erstaunt selbst Andreas Frei. Der forensische Psychiater ist leitender Arzt der Luzerner Psychiatrie und gehört zu den wenigen erfahrenen Gutachtern der Schweiz.

swissinfo: Der geständige Täter, der Lucie tötete, wurde 2004 begutachtet und statt verwahrt in eine Massnahmeinstitution für junge Erwachsene eingewiesen. 2008 kam er auf Bewährung frei, ohne neuerliche Begutachtung. Ist das gängige Praxis?

Andreas Frei: Ich bin erstaunt über diese Tatsache. Ich hätte erwartet, dass ein Täter mit einem derartigen Delikt bei der Entlassung auch aus einer Massnahmeninstitution für junge Erwachsene extern noch einmal begutachtet wird.

Bei der Entlassung erwachsener Straftäter aus einer Massnahmeninstitution für Erwachsene ist ein solches neuerliches Gutachten plus eine Beurteilung durch die interdisziplinäre Fachkommission für gemeingefährliche Straftäter jedenfalls absolut Usus.

swissinfo: Also besteht Handlungsbedarf, was Gutachten bei der Entlassung schwerer jugendlicher Straftäter betrifft?

A.F.: Möglichweise. Ich war jedenfalls über den Umstand erstaunt, als ich erfahren habe, dass dies in diesem Fall nicht geschehen war.

swissinfo: Bis wie weit in die Zukunft können Sie als Gutachter Beurteilungen über die Entwicklung von Straftätern machen?

A.F.: Das ist eine sehr schwierige Frage. Je längerfristiger die Prognose ist, desto ungewisser wird sie.

Wir können uns dabei auf so genannte Basis-Rezidivraten (Rückfälligkeitsraten, die Red.) für gewisse Delikte und Krankheitsbilder stützen. Diese Raten sind bei Tötung übrigens extrem gering. Selbstverständlich muss man den Täter immer in seiner ganz konkreten Umgebung anschauen.

swissinfo: Gibt es in der Schweiz überhaupt genügend kompetente Gutachter, die gefährliche Gewalt- und Sexualstraftäter beurteilen können?

A.F.: Hier besteht heute sicher noch ein Problem. Aber die Zahl der kompetenten Gutachter und vor allem auch die Qualität ihrer Arbeit erhöht sich laufend.

Die Schweizerische Gesellschaft für Forensische Psychiatrie unternimmt erhebliche Anstrengungen in der Ausbildung des Nachwuchses. Die Zahl der forensisch ausgebildeten Psychiater wird sich in der Schweiz in den nächsten drei Jahren verdoppeln – dieser Bereich boomt richtiggehend.

swissinfo: Beim geständigen Täter von Baden war bekannt, dass er besonders unter Drogeneinfluss gefährlich ist. Nach der Entlassung musste er eine Therapie selber finanzieren. Ist das üblich?

A.F.: Nein. Ich bin höchst erstaunt, dass ein Täter, der nach Verbüssung einer schweren Straftat entlassen wird, eine anschliessende Therapie selbst bezahlen müsste. Ich nehme aber an, dass die Krankenkasse eingesprungen wäre, hätte er finanzielle Probleme gehabt. Allerdings stammen die meisten forensischen Patienten aus unteren Gesellschaftsschichten, die teilweise die Krankenkassen-Beiträge nicht mehr bezahlt haben.

Grundsätzlich sagt der Gesetzgeber schon, dass eine Therapie auf Kosten des Klienten gehen muss. Aber im Kanton Luzern beispielsweise ist man daran, eine grosszügige Lösung zu finden. Man erachtet die Therapie als derart wichtig, dass, falls nötig, auch die Vollzugsbehörde die Therapiekosten übernimmt, also der Staat.

swissinfo: Im Kanton Aargau, wo die Tat geschah, muss eine einzige Person der Bewährungshilfe jährlich rund hundert Fälle betreuen. Besteht da nicht das Risiko der Überforderung?

A.F.: Das ist zweifellos ein weiteres Problem. Man hat wahrscheinlich den Bereich Bewährungshilfe in der Schweiz bisher vernachlässigt. Hier herrscht möglicherweise grösserer Nachholbedarf als auf Seiten der Gutachter. Im vorliegenden Fall lag das Problem nicht bei den Gutachern, sondern bei der Nachbetreuung.

swissinfo: Gibt es heute mehr gefährliche Menschen aufgrund psychischer Probleme?

A.F.: Im Gegensatz zur öffentlichen Wahrnehmung geht die Zahl schwerer Sexualstraftaten laufend zurück, zumindest in Zentraleuropa. Dies hängt – böse gesagt – mit der allgemeinen Sicherheitshysterie zusammen: Es darf nichts mehr passieren, und positive Entwicklungen werden von den Medien schlicht verschwiegen.

Die Zahl der jährlichen Verkehrstoten etwa geht zurück, trotzdem wird noch nach weiteren Sicherheitsmassnahmen gerufen. Es ist eine Tendenz der heutigen Gesellschaft, nur noch Sicherheit zu fordern, ohne den dafür nötigen Aufwand zu bedenken.

swissinfo: Es gibt Politiker, die nach solchen Gewalttagen zu «Hüftschüssen» neigen. Was wären taugliche Vorschläge?

A.F.: Es besteht offenbar ein Problem bei der längerfristigen Nachbetreuung von kritischen forensischen Patienten. Es ist weniger ein Problem der Gutachter, sondern der ausgebildeten ambulanten forensischen Therapeuten und der juristischen Möglichkeiten, die sie haben, wenn Gefahr im Verzug ist.

swissinfo-Interview, Renat Künzi

1993 wurde bei Zürich eine 20-jährige Pfadiführerin ermordet.

Der Täter, der wegen zwei Sexualmorden und elf Vergewaltigungen zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden war, beging den neuerlichen Mord während eines unbegleiteten Hafturlaubs.

Das Verbrechen löste in der Öffentlichkeit grosse Diskussionen aus.

Seither hat die Zahl der Verwahrungen von gefährlichen Gewalttätern, die als untherapierbar eingestuft wurden, in der Schweiz stetig zugenommen.

Zwischen 1992 und 2006 stieg die Zahl der verwahrten Personen im Massnahmevollzug um das 2,5 Fache von 83 Verwahrten auf 218.

Nach dem Mord 1993 lancierten Angehörige von weiteren jungen Mordopfern eine Volksinitiative, welche die lebenslängliche Verwahrung nicht therapierbarer, extrem gefährlicher Sexual- und Gewaltstraftäter forderte.

Das Begehren wurde 2004 überraschend mit 56% Ja angenommen. Die menschenrechtskonforme Umsetzung bereitete aber grosses Kopfzerbrechen.

2007 befanden sich 276 Täter in lebenslanger Verwahrung.

Forensische Wissenschaften sind die Gerichtswissenschaften.

Im Vordergrund steht die Vertiefung des kriminaltechnischen Wissens.

Die forensische Psychiatrie ist sowohl Teilgebiet der Psychiatrie als auch der Rechtsmedizin. Sie befasst sich mit dem Grenzgebiet von Psychiatrie und Recht.

Konkret stehen die Fragen nach der Schuldfähigkeit von Straftätern und die Begutachtung gefährlicher Täter im Vordergrund.

Auf Grundlage von Gutachten forensischer Psychiater wird entschieden, ob Täter lebenslänglich verwahrt werden.

Gemäss des Magazins Weltwoche gibt es in der Schweiz im Moment nur 22 zertifizierte forensische Psychiater, welche die notwendigen Qualifikationen für komplexe Gutachten haben.

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