Schulförderung: Nach den Mädchen nun die Secondos
So wie man vor 40 Jahren aktiv mit der schulischen Förderung der Mädchen begann, sollte man heute die Kinder von Migranten fördern. Dies fordert Franz Schultheis, Mitautor der Nationalfonds-Studie "Kindheit und Jugend in der Schweiz", die politischen Zündstoff hat.
Die Kindheit und Jugend sind in der Schweiz «in beachtlichem Mass» durch ungleiche Bedingungen geprägt, sagt Franz Schultheis – «beachtlich» sogar im Vergleich mit den Nachbarländern.
Der jüngste Bericht des Nationalfonds (NFP 52) zeigt bisher kaum erforschte Bezüge zwischen Elternhaus, Erziehungsstil, Förderung zu Hause einerseits und der Herausbildung von Kompetenzen bei Kindern und Jugendlichen andererseits, die es braucht, um im Leben vorwärts zu kommen.
Aus den Resultaten dieser Studie lassen sich Folgerungen ziehen, die mit viel politischem Zündstoff verbunden sind.
In welche Richtung schul- und jugendpolitische Massnahmen gehen könnten, sagt Mitverfasser Franz Schultheis.
swissinfo: Dass soziale Benachteiligung auf Kinder weiter gegeben wird, ist nicht neu. Bestätigt Ihre Studie nicht bereits Bekanntes?
Franz Schultheis: Soziale Benachteiligungen existieren in der Schweiz – und sie betreffen eine beachtliche Anzahl Kinder. Das ist nicht neu, aber neu sind diese Befunde mit Daten und Zahlen zu einer Synthese verdichtet.
swissinfo: Schlagen Sie auch konkrete Massnahmen vor?
F.S.: Geht man von den faktischen Benachteiligungen aus, und dass diese durch Migrationshintergrund verstärkt werden, dann drängen sich Schlüsse für die Bildungspolitik auf.
Mit der Vorschulerziehung muss man schnell, auf breiter Basis und erschwinglich für die Eltern beginnen. Damit steuert man den Handicaps entgegen, die Kinder unterprivilegierter Eltern haben.
Also: Gute Kindergärten und Vorschulen, möglichst schon ab dem 3. oder 4. Altersjahr.
swissinfo: Das ist ja politisch sehr umstritten. Haben Sie noch mehr Zündstoff?
F.S.: Ja, nämlich die Entschärfung der sozialen Segregation des Schulsystems. Dieses sollte so ausgestaltet werden, dass die Weichenstellung nicht in einem frühen Zeitpunkt erfolgt.
Damit kommen Benachteiligte nicht frühzeitig aufs Abstellgeleise.
Viele möchten ja vor allem die überdurchschnittlich Begabten fördern. Demgegenüber zeigen die PISA-Berichte, dass sozial segregative Schulsysteme nicht nur zu früher Ausgrenzung führen, sondern auch die Gesamtleistung des Bildungssystems negativ beeinflussen.
Jene PISA-Systeme, die insgesamt gut abschneiden, wirken wenig sozial segregativ und sehen schulische Weichenstellungen erst in einer späteren Schulphase vor, wie in Skandinavien.
Die Schweizer Bildungssysteme wirken sozial ziemlich segregativ. Dies führt zu einem relativen Bildungsnotstand, weil das Potenzial vieler Kinder nicht ausgenutzt wird.
swissinfo: Gibt es im nahen Ausland mehr Daten und Befunde zu den Ungleichheiten?
F.S.: Diese Befunde zwischen den privatisierten, stark segregativen und den wenig trennend wirkenden Schulsystemen werden analog auch für Deutschland oder Frankreich bestätigt.
Begabte mögen bei wenig trennenden Systemen etwas benachteiligt sein. Nur: Um die Kinder der privilegierten Klassen müsste sich der Staat weniger Sorgen machen als um die der Benachteiligten.
Zum Beispiel die «Elternlobby», die sich für eine freie Schulwahl stark macht – sie besteht wohl kaum in erster Linie aus Migranten-Eltern, sondern eher aus dem Mittelstand.
swissinfo: Wie steht es denn innerhalb der Secondos? Gibt es Unterschiede nach kultureller oder ethnischer Herkunft?
F.S.: Grosse sogar. Die italienisch Stämmigen hatten ja den Anschluss sehr gut angepackt. Bei anderen überträgt sich der Bildungsrückstand der Eltern stark auf die Kinder. In der Romandie sind vor allem die Portugiesen davon betroffen, in der Deutschschweiz Leute aus dem Balkan.
Beide haben in der zweiten Generation das Bildungsniveau der italienisch Stämmigen bei weitem nicht erreicht.
swissinfo: Wie kommt das?
F.S.: Was die gesellschaftliche Integration angeht, sind nicht alle Populationen gleichermassen willkommen. Dazu kommen kulturelle Dispositionen, die integrationsgeeigneter sind.
Qualitative Interviews zeigen, dass in vielen portugiesischen Familien eine gewisse Bildungs-Fatalität vorkommt. So nach dem Muster: Es ist doch schon schön, wenn unsere Tochter Sekretärin wird.
swissinfo: Ist diese Haltung nicht Privatsache?
F.S.: Nein, ist es eben nicht. Wenn ein Kind förderungswürdig ist und Fähigkeiten mitbringt, darf man die Entscheidung nicht einfach nur den Eltern überlassen. Das käme einer Abdankung des öffentlichen Schulsystems gleich. Mit der Chancengleichheit muss das System alle Kinder dorthin bringen, bis wohin es geht.
swissinfo: Aber vor 40 Jahren war das ja mit den Schweizer Mädchen ebenso.
F.S.: Genau. Nur hat sich das radikal geändert seither. Heute haben die Mädchen die Jungen überflügelt.
Die Mädchen haben es angepackt, weil ein Mentalitätswandel standfand, begleitet von einer aktiven Föderung an den Schulen. Dasselbe Prinzip brauchen wir nun gegenüber den neuen Schichten, die finanziell und kulturell noch nicht genügend ausgestattet sind.
Eltern, die nie ein Gymnasium von innen gesehen haben, haben Vorbehalte und können ihren Kindern nicht helfen. Die brauchen Hilfe. Man darf sie nicht sich selbst respektive ihren Familien überlassen. Das ergibt zu viele Chancenungleichheiten.
swissinfo-Interview: Alexander Künzle
Der Soziologe Franz Schultheis ist ein Schüler des bekannten französischen Soziologen Pierre Bourdieu.
Wie Bourdieu hat sich auch Schultheis seit langem der Ungleichheitsforschung verschrieben.
Schultheis, 54, lehrt zur Zeit an der Uni St. Gallen.
Vorher lehrte er in Genf, Neuenburg und Paris.
Der Synthesebericht «Kindheit und Jugend in der Schweiz» schliesst das Nationale Forschungsprogramm 52 (NFP) ab.
Insgesamt trugen 29 interdisziplinäre Forschungsprojekte zu dem 2000 vom Bundesrat in Auftrag gegebenen NFP 52 «Kindheit, Jugend und Generationenbeziehungen» des Schweizeischen Nationalfonds bei.
Das Projekt kostete 12 Mio. Franken.
Die Impulse für eine politische Agenda aus dem NFP 52 wurden im Juni 2007 veröffentlicht.
Der Generationenbericht folgte Anfang August 2008.
«Kindheit und Jugend in der Schweiz» schloss am Dienstag den Publikationskreis ab.
Grund für das Programm waren Forschungslücken in der Schweiz, bezüglich der Basis für eine generationenübergreifende Sozial- und Gesellschaftspolitik.
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