Schweiz-EU: Brüssel weicht nicht vom Kurs ab
Die Europäische Kommission betrachtet die beiden Abkommen mit der Schweiz zur erweiterten Personenfreizügigkeit und Schengen als Zwillinge.
Brüssel wundert sich über die entstandene Aufregung in der Schweiz, da die Zusammenhänge politischer und nicht rechtlicher Natur seien.
Die Volksabstimmung über die Personenfreizügigkeit für die zehn neuen EU-Länder vom 25. September kann den Schengen-Beitritt tatsächlich beeinflussen. Denn diese Länder entscheiden mit, ob die Schweiz beitreten darf.
In Brüssel versteht man die Aufregung in der Schweiz über die Äusserungen von Benita Ferrero-Waldner nicht. Die EU-Aussenkommissarin hatte erklärt, dass die Schweiz Schengen nur dann beitreten kann, wenn das Volk am 25. September auch noch Ja sagt zur Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf die zehn neuen EU-Länder.
«Zwischen diesen beiden Abkommen gibt es zwar keine rechtliche Verknüpfung, wohl aber eine sachliche und politische», bekräftigte die Sprecherin von Ferrero-Waldner. «Es handelt sich um eine logische Verknüpfung.»
«Kein Schengenland schert bei der Freizügigkeit aus»
Von der Sache her war Schengen für die EU schon immer eine Weiterentwicklung der Personenfreizügigkeit: Die Bürger sollen im gemeinsamen Binnenmarkt nicht nur frei arbeiten, sondern auch ohne Passkontrollen reisen dürfen.
«Die Personenfreizügigkeit ist die Basis für Schengen», sagte ein hoher EU-Funktionär. Es gibt zwar EU-Länder, die bei Schengen nicht mitmachen. Aber es gibt kein einziges Schengenland, das bei der Personenfreizügigkeit ausschert.
Das gilt auch für die Nicht-EU-Länder Norwegen und Island, wie ein Sprecher von EU-Justizkommissar Franco Frattini betonte.
Volle Mitbestimmung der neuen 10
Politisch ergibt sich eine Verknüpfung zwischen den beiden Abkommen einfach aus der Tatsache, dass die zehn neuen EU-Länder seit Mai 2004 in der EU voll mitbestimmen.
Die Schengen-Verträge mit der Schweiz werden erst rechtskräftig, wenn auch die EU sie genehmigt hat. Das Verfahren auf EU-Seite ist ziemlich kompliziert, aber letztlich entscheidet der EU-Ministerrat – und zwar einstimmig.
Es genügt also ein einziges Veto, zum Beispiel von Polen, Tschechien oder auch Malta, um den Schengen-Beitritt der Schweiz zu blockieren. Ein Nein des Schweizer Volkes zur Personenfreizügigkeit für die zehn neuen EU-Länder würde in diesen als Ohrfeige empfunden – und hätte selbstverständlich Konsequenzen.
Offensichtliche Zusammenhänge
Es erstaunt deshalb, dass Justizminister Christoph Blocher und Aussenministerin Micheline Calmy-Rey am Montag allen Ernstes behaupteten, sie seien überrascht, dass die EU nun die Personenfreizügigkeit mit dem Schengen-Beitritt der Schweiz verknüpft.
«Wer an den Verhandlungen beteiligt war, war über die Zusammenhänge im Bild», sagte der Sprecher von EU-Justizkommissar Franco Frattini. Und spielte damit den Ball nach Bern zurück.
Tatsächlich hatte die Vizedirektorin des Bundesamtes für Justiz, Monique Jametti Greiner, den möglichen Zusammenhang so oft auf Abstimmungspodien erwähnt, dass sich sogar SVP-Präsident Ueli Maurer daran erinnerte.
Ausgerechnet die federführenden Mitglieder des Bundesrates scheinen aber der ehemaligen Schengen-Verhandlungsleiterin nicht zugehört zu haben.
Indirekt bestätigte auch Bundesrat Joseph Deiss die Ignoranz seines Kollegen und seiner Kollegin im Bundesrat. In einer schriftlichen Mitteilung erklärte er zwar, dass die EU erst am Montag mit den Aussagen der EU-Aussenkommissarin Ferrero-Waldner die Personenfreizügigkeit ausdrücklich mit dem Schengenbeitritt verband. Im Satz zuvor schreibt er jedoch: «Die Möglichkeit einer politischen Verknüpfung hat immer bestanden.»
swissinfo, Simon Thönen, Brüssel
5. Juni: Die Schweizer Stimmbürger sprechen sich mit 54,6% für die Abkommen von Schengen und Dublin aus.
25. September: Abstimmung über die Erweiterung des freien Personenverkehrs auf die 10 neuen Mitglieder der Europäischen Union.
Beide sind Teil einer Serie von bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU.
Bisher wurden erst 3 der 9 Abkommen der Bilateralen II von der Schweiz und von der EU genehmigt: Zinsbesteuerung, Ruhegehälter pensionierter EU-Beamter und verarbeitete Landwirtschaftsprodukte.
Von der Schweiz aber nicht von der EU genehmigt sind die Abkommen über Umwelt und Statistik sowie Schengen und Dublin.
Auf beiden Seiten noch nicht ratifiziert sind die Filmförderung und die Betrugsbekämpfung, deren Genehmigung die Schweiz verzögern könnte, um Druck auf die EU auszuüben.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch