Schweiz kritisiert mangelnden Zugang zum Gazastreifen
Für den Chef der humanitären Hilfe der Schweiz ist der nicht garantierte Zugang zum Gazastreifen das grösste Problem für die Wiederaufbauhilfe. Das sagte Toni Frisch nach einem Besuch in den Palästinensergebieten.
Toni Frisch, Vizedirektor der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza), betonte im Gespräch mit swissinfo zwar, die Schweizer Hilfe für das palästinensische Gebiet käme durch, doch viele Menschen müssten auf die Unterstützung warten.
In einem Telefongespräch aus dem Jordan-Tal (Westbank) erklärte Frisch, die Menschen vor Ort seien schockiert über die kollateralen Schäden der israelischen Bombardierungen vom Januar.
Die israelischen Streitkräfte hatten die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen mit Flugblättern und Telefonanrufen vor den Bombardierungen gewarnt und behaupten, sie hätten auf die Zivilbevölkerung Rücksicht genommen.
Israel wird beschuldigt, während den ab 27. Dezember über 22 Tagen dauernden Angriffen auf den Gazastreifen unverhältnismässig gehandelt zu haben. Dabei wurden rund 1300 Palästinenser getötet, darunter 400 Kinder. Mehr als 5300 Menschen wurden verwundet.
Israel warf der in Gaza regierenden Hamas vor, ihre Kämpfer unter die Zivilbevölkerung in Schulen und Moscheen geschickt zu haben.
swissinfo: Können Sie beschreiben, was Sie vor Ort gesehen haben?
Toni Frisch: Was ich gesehen habe, hat mich nicht überrascht. Ich bin seit 30 Jahren in der humanitären Hilfe tätig. Ich habe viele Katastrophen und Krisen erlebt. Im Gazastreifen habe ich die Zerstörungen gesehen. Menschen wurden getötet und verwundet, es ist sehr dramatisch.
Aber alles in allem war ich von der Realität nicht überrascht, nach allem, was ich vorher gelesen und von unserem Team vor Ort gehört hatte.
swissinfo: Was hat Sie besonders getroffen?
T.F.: Die Leute haben realisiert, dass es Luftangriffe gab. Was sie nicht verstehen können, ist, dass es derart viele Kollateralschäden gab, dass derart viele Schulen, Lagerhäuser und sogar Spitäler getroffen und so viele Zivilisten getötet wurden. Die Palästinenser verstehen nicht, dass auch landwirtschaftliche Gebiete zerstört wurden. Natürlich durchkreuzten Panzer und Bulldozer Landwirtschaftsgebiete und Farmland.
Das Hauptproblem war und ist noch jetzt der Zugang zu den Leuten im Gazastreifen. Die Menschen leben dort wie in einem Gefängnis. Sie können sich überhaupt nicht frei bewegen. Waren für den täglichen Bedarf können seit eineinhalb Jahren nicht mehr in den Gazastreifen gelangen. Medizinische und Hilfsgüter können den Bedürftigen nicht zugänglich gemacht werden. Das ist es, was die Leute nicht verstehen.
Wir waren privilegiert und kamen mit unseren Hilfsgütern durch. Doch andere humanitäre Organisationen mussten tagelang warten. Das ist das Hauptproblem.
swissinfo: Sie erklärten sich schockiert über die Zerstörungen in der Landwirtschaft und an den Schulen in Gaza. Ist die Hamas fähig, den Wiederaufbauprozess in Gang zu bringen?
T.F.: Alle Wiederaufbau-Programme sind vollständig unabhängig von der lokalen Regierung oder politisch verantwortlichen Behörden. Es ist nicht so, wie gewisse Leute oder Journalisten glauben, dass wir (den Terroristen) Geld und Güter bringen, wie das in einer Schweizer Zeitung zu lesen war.
Wir haben seit vielen Jahren unsere Verteiler-Netzwerke, lokale Experten und Mitarbeiter. Wir arbeiten mit dem UNO-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten (Unrwa) und dem Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) zusammen. Wir haben ein Netzwerk von Hunderten von Leuten und können genau verfolgen, wo die Hilfsgüter hinkommen.
Viele Leute denken, humanitäre Hilfe sei etwas, das man heute lernen kann und dabei morgen schon Experte ist. Das ist nicht der Fall. Das ist ein Beruf, ein gutes Herz allein reicht nicht.
swissinfo: Die UNO hat früher in diesem Monat humanitäre Hilfe zurückgehalten, nachdem die Hamas Hilfsgüter beschlagnahmt hatte. Wie steht es um die Balance zwischen autonomer Arbeit und Verhandeln mit der Hamas-Regierung?
T.F.: Es gibt viele Organisationen und Regierungen, denen eine totale Kooperation widerstrebt. Wenn sie es tun würden, gerieten sie in Kritik. Das ist ein Problem. So muss jede Regierung und Behörde selber entscheiden, welcher Weg für sie der beste ist.
Wir wissen genau, was wir tun. Die Schweiz verfolgt weiterhin ihre Wiederaufbau-Programme. Ich sehe dabei keine Probleme und kann Ihnen sagen, dass nichts in falsche Hände kommt.
An der Konferenz von Sharm-el-Sheikh wurden zwei Hauptziele festgelegt: humanitäre Hilfe und rasche Wiederaufbauhilfe. Aber man kann nicht von Wiederaufbau reden, so lange Israel nicht einmal den Transport von genügend Zement in den Gazastreifen zulässt.
swissinfo: Angenommen es gibt doch mal an gewissen Punkten Zugang in das Gebiet: Was müsste investiert werden, um den Lebensstandard der Palästinenser im Gazastreifen auf das Niveau ihrer arabischen Nachbarn anzuheben?
T.F.: Ich weiss es nicht. Ehrlich gesagt, das sind politische Fragen, die an Konferenzen gelöst werden müssen.
Es braucht natürlich praktische Lösungen – und freien Zugang zum Gazastreifen, zumindest so viel, dass jeden Tag genügend Camions mit genügend Material eingeführt werden können, damit wenigstens Reparaturen an den zerstörten Häusern, Spitälern und Schulen getätigt werden können. Es ist fundamental wichtig, dass dies passiert.
swissinfo: Wird der Gazastreifen irgendmal in Zukunft unabhängig von ausländischer humanitärer Hilfe? Wird die Hamas-Administration selbst für die Bevölkerung sorgen können?
T.F.: Ich hoffe es. Die Leute möchten überhaupt nicht von humanitärer Hilfe abhängig sein. Was sie wollen, ist Zugang zu den Gütern, die man für ein normales Leben braucht. Sie wollen Material zum Wiederaufbau, sie wollen, dass ihre Kinder wieder zur Schule gehen, dass die Patienten in den Spitälern gepflegt werden können.
Das brauchen und wollen die Palästinenser. Ich nehme an, sobald hier wieder Normalität einkehrt, wird humanitäre Hilfe nicht mehr nötig sein. Vielleicht noch bei Gelegenheit, aber nicht mehr generell.
Aber derzeit sind mindestens 50 Prozent – oder sogar 70 Prozent – der Bevölkerung im Gazastreifen von Hilfsprogrammen und Hilfsgütern abhängig. Die Situation in dem Gebiet ist absolut erschreckend und katastrophal.
swissinfo: Kann Hamas diese Probleme lösen? Hat sie genügend administrative Kapazitäten und qualifiziertes Personal?
T.F.: Diese Frage kann ich nicht beantworten, sie ist hypothetisch. Wer auch immer die verantwortliche Behörde im Gazastreifen ist, sie braucht Normalität. Wenn dies nicht der Fall ist, kann niemand unabhängig sein, niemand kann dieses Gebiet organisieren.
swissinfo-Interview: Justin Häne
(Übertragung aus dem Englischen: Jean-Michel Berthoud)
27. Dezember 2008: Israel beginnt mit den Luftangriffen auf Gaza.
3. Januar 2009: Israelische Bodentruppen dringen in den Gazastreifen ein.
8. Januar 2009: Die UNO ruft zu einem sofortigen Waffenstillstand auf, der zu einem Abzug der israelischen Truppen führen soll.
16. Januar 2009: Israelisch-amerikanisches Abkommen zur Unterbindung des Waffenschmuggels der Hamas.
17. Januar 2009: Israel proklamiert einen einseitigen Waffenstillstand.
18. Januar 2009: Hamas kündigt ebenfalls einen Waffenstillstand an, unter der Bedingung, dass Israel innerhalb einer Woche seine Truppen aus dem Gazastreifen abzieht. Israel beginnt mit dem Abzug.
Im Gaza-Krieg wurden zwischen 1200 und 1300 Palästinenser getötet, darunter 400 Kinder.
Israel hat nach eigenen Angaben 13 Soldaten verloren.
Der Gazastreifen ist ein 41 Kilometer langes und 12 Kilometer breites Territorium an der Küste des östlichen Mittelmeeres und hat eine Fläche von 360 km2.
Das Gebiet grenzt im Norden und Osten an Israel, im Süden an Ägypten.
Im Gazastreifen leben rund 1,5 Millionen Menschen, das sind über 4000 pro km2.
Der grösste Teil der Bevölkerung sind palästinensische Flüchtlinge oder Nachfahren von ihnen.
1967 besetzte Israel das Territorium und gründete dort 21 jüdische Siedlungen.
Nach den Oslo-Abkommen von 1993 übernahm die palästinensische Autonomiebehörde die Administration des Gazastreifens und der Westbank.
Israel zog sich 2005 ganz aus dem Gazastreifen zurück, behielt aber die Kontrolle über die Grenzübergänge.
Aus den Legislativwahlen 2006 ging die Hamas-Bewegung als klare Siegerin hervor.
Nach Kämpfen mit der Fatah-Bewegung von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas übernahm Hamas im Juni 2007 die Kontrolle über den Gazastreifen.
Seit Juni 2007 hielt Israel den Gazastreifen unter totaler Blockade.
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