Schweiz: Warum hohe Löhne vielen nicht mehr zum Leben reichen
Wie weit kommt man in der Schweiz mit fast 7000 Franken Monatslohn? Neue Statistiken zeigen, dass der Durchschnittslohn in der Schweiz immer noch steigt. Allerdings ist das für Teile der Bevölkerung nicht mehr genug, um mit den steigenden Kosten Schritt zu halten.
Löhne: seit 2008 hoch und stabil
Im Jahr 2022 betrug der monatliche Medianlohn vor Steuern für eine Vollzeitstelle in der Schweiz 6788 Franken. Das teilte das Bundesamt für StatistikExterner Link (BFS) letzte Woche mit.
Im Vergleich zu 2020 stieg der Lohn um 123 Franken pro Monat und im Vergleich zu vor zehn Jahren um 350 Franken.
Die Unterschiede zwischen Spitzen-, Mittel- und Geringverdienenden sind relativ stabil geblieben. Zwischen 2008 und 2022 konnten alle Einkommenskategorien nominal ähnlich zulegen.
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Doch hinter der Stabilität verbergen sich grosse Unterschiede. Wer zum Beispiel einen höheren Lohn will, dafür aber auch höhere Preise in Kauf nimmt, ist in Zürich (7729 Franken) besser aufgehoben als im Tessin (5590 Franken).
Auch ein Universitätsabschluss, vor allem, wenn er zu einem Job mit «hoher Verantwortung» führt, bringt zumindest ein paar tausend Franken mehr als ein Fachhochschulabschluss oder eine Berufslehre.
Entscheidend ist aber, wo man arbeitet: Branchen mit «hoher Wertschöpfung» wie Tabak, Banken oder Pharma sind solchen mit tieferen Löhnen wie Gastgewerbe oder Hotellerie um Längen voraus.
Die Kluft zwischen den Geschlechtern wird langsam kleiner
Ein weiterer Faktor, der für die Unterschiede verantwortlich ist, wenn auch mit abnehmender Tendenz, ist das Geschlecht: Im Jahr 2022 verdienten Frauen 9,5% weniger als Männer – gegenüber 10,8% im Jahr 2020 und 11,5% im Jahr 2018.
Das BFS hat zwar keine Erklärung für den Rückgang geliefert, aber es erklärte, warum die Kluft überhaupt besteht: Bildung, Alter, Verantwortungsniveau oder Branche spielen dabei eine Rolle.
Die Statistik ist jedoch auf Vollzeitlöhne ausgerichtet und verdeckt daher teilweise eine praktische Realität: Schweizer Frauen arbeiten viel häufiger Teilzeit als Männer.
Laut der linken Zeitung Le CourrierExterner Link zeigt die BFS-Statistik daher ein «männerzentriertes» Bild, welches «die Lohnbedingungen der Mehrheit der Frauen nicht widerspiegelt».
+ Das Einkommen ist eine Sache. Wie aber steht es um die Vermögensverteilung in der Schweiz?
Frauen sind in Niedriglohnsektoren (unter 4500 Fr.) mit 62,5% überrepräsentiert und in Hochlohnsektoren (über 16’000 Fr.) mit 24,6% unterrepräsentiert.
Die Situation hat sich jedoch leicht zugunsten der Frauen verbessert, wie das BFS schreibt. Ein Gesetz könnte in den kommenden Jahren zu einer weiteren Verbesserung der Frauenquote in den Verwaltungsräten und Geschäftsleitungen der grössten Schweizer Publikumsgesellschaften führen.
Die Statistik zeigt jedoch auch, dass das Lohngefälle zwischen den Geschlechtern mit zunehmender beruflicher Hierarchie grösser wird.
Ärger im Paradies? In der Schweiz haben viele finanzielle Probleme
6788 Franken sind zweifellos viel Geld. Tatsächlich wird die Schweiz oft als das Land mit den höchsten Löhnen der Welt bezeichnet – auch für diejenigen, die ganz unten auf der Skala stehenExterner Link.
Doch das Geld ist schnell wieder weg. Zürich und Genf führen regelmässig die Rangliste der teuersten Städte an. Und auch im Big-Mac-Index des Magazins The EconomistExterner Link liegt die Schweiz ganz vorne.
Rechnet man die Steuer- und Rentenabzüge, die hohen Durchschnittsmieten (1412 Fr. pro Wohnung im Jahr 2022), die Kosten für den öffentlichen Verkehr und die hohen Krankenkassenprämien (durchschnittlich 360 Fr. pro Monat) hinzu, erscheinen die Löhne gar nicht mehr so hoch.
+ Die Armutsfalle für Pensionierte in der Schweiz
Obwohl die Schweiz in den letzten Jahren weniger stark von der Inflation betroffen war als andere Länder, hat diese auch die vom BFS prognostizierten Lohnerhöhungen zunichte gemacht. Seit 2020 sind die Reallöhne insgesamt sogar um 0,8% gesunken, wie das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) mitteilt.
Auch wenn diese Entwicklung weniger ausgeprägt ist als in anderen europäischen LändernExterner Link, ist sie doch spürbar: Eine vielbeachtete Umfrage von Mitte März hat gezeigt, dass die Hälfte der Schweizer Familien nicht in der Lage ist, jeden Monat genügend Geld beiseite zu legen, um eine unerwartete Ausgabe wie einen dringenden Zahnarztbesuch zu bezahlen.
Vier von zehn Familien geben an, dass ihre finanzielle Situation eine Rolle dabei spielt, wenn sie sich gegen weitere Kinder entscheiden.
Als «armutsgefährdete Personen» – definiert als Personen mit einem verfügbaren Einkommen von weniger als 60% des Medianeinkommens – werden im Referenzjahr 2021 14,5% der Schweizer Bevölkerung bezeichnet, während der Durchschnitt in der Europäischen Union bei 16,8% liegt.
Neutrale Statistik, politische Interpretation
Die Ambivalenz, wie gut die Situation für die einen oder wie schlecht sie für die anderen ist, spiegelte sich direkt in den Reaktionen auf die Statistik wider.
Wie um den Debatten zuvorzukommen, lud das BFS sogar den Chef des Schweizerischen Arbeitgeberverbands, Roland Müller, und den Chefökonomen des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds, Daniel Lampart, zu seiner Pressekonferenz ein.
Das «Geplänkel» zwischen den beiden stellte laut der Zeitung Le Temps fast die Nachrichten des Tages in den Schatten, darunter auch positive Entwicklungen wie die Verringerung des Gender Gaps.
+ Aus unserem Archiv: Was bedeutet ein Lohn von 6000 Franken?
Für Müller ist die Inflationslage zwar schwierig, aber die Covid-19-Pandemie und die geopolitischen Unsicherheiten hätten die Situation noch stärker verschärfen können. Insgesamt sei die Stabilität der Statistiken «ermutigend», sagte er.
Lampart wies darauf hin, dass 12,5% der Arbeitnehmenden mit einem «Niedriglohn» (weniger als 4525 Fr. pro Monat) auskommen müssten und dass 5000 Franken als Minimum angesehen werden sollten.
Da der Arbeitgeberverband jedoch nicht an weiteren sektoriellen Lohnerhöhungen interessiert ist, konzentrieren die Gewerkschaften ihre Anstrengungen derzeit auf fruchtbarere Jagdgründe.
Darunter etwa kantonale Mindestlöhne und Volksabstimmungen zur Stärkung der Kaufkraft – wie der jüngste Erfolg einer 13. AHV-Monatsrente und eine bevorstehende Abstimmung über die Krankenversicherungskosten.
Editiert von Balz Rigendinger, Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
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