Schweizer für mehr Strenge gegen Jugendgewalt
Eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung findet, die Jugendlichen seien heute aggressiver als vor 20 Jahren und fordert härtere Massnahmen in der Erziehung. Dies sagt eine am Sonntag publizierte Umfrage.
Dagegen hält der Zürcher Pädagogikprofessor Jürgen Oelkers in der NZZ am Sonntag, dass mehr Strenge und Disziplin an Schulen und in der Familie nicht weiterhelfen.
Das Thema Jugendgewalt beschäftigt die Schweiz: Das geht aus einer Umfrage im Auftrag von «SonntagsBlick», «Le Matin Dimanche» und «Il Caffè» hervor. 77,1% der Befragten finden demnach, die Jugendlichen seien heute aggressiver als vor 20 Jahren, 18,3% sehen keine gesteigerte Aggressivität.
Bei der Frage nach der Verantwortung wurden an erster Stelle die Eltern mit 76,7% genannt, gefolgt von der Gesellschaft mit 69,7%. Auf die Lehrer als Verantwortliche für die steigende Jugendgewalt entfielen nur 23,3% Nennungen.
Eine Mehrheit befürwortet eine härtere Gangart bei der Erziehung und findet, auch körperliche Strafen seien erlaubt. 68,1% der Befragten halten Ohrfeigen oder einen «Klaps auf den Hintern» für legitim, 30,3% lehnen solche Methoden ab.
Die jüngsten Forderungen der Schweizerischen Volkspartei (SVP) und der Sozialdemokraten (SP) im Zusammenhang mit Jugendgewalt kommen verschieden an.
80,3% der Befragten befürworten Erziehungskurse für Eltern von aggressiven Kindern, wie die Zürcher SP-Regierungsrätin Regine Aeppli sie fordert. 16,4% lehnen dies ab. Keinen Anklang finden dagegen die Vorschläge von Zürcher SP-Exponenten, straffällige Jugendliche bereits mit 14 Jahren ins Gefängnis zu stecken.
Die SVP stösst mit ihrem Vorschlag, ausländische Jugendliche nach schweren Straftaten zusammen mit ihren Eltern auszuweisen, auf Verständnis. 55,9% sagen ja zu dieser drastischen Massnahme, 39,1% sind dagegen.
«Die gefühlte Bedrohung nimmt zu»
In einem Interview mit der NZZ am Sonntag zweifelt dagegen der Zürcher Pädagogikprofessor Jürgen Oelkers daran, dass mehr Strenge und Disziplin an Schulen und in der Familie im Umgang mit Jugendgewalt weiter helfen würden. Zudem sei Jugendgewalt eher eine gefühlte als eine reale Bedrohung.
Es stimme, dass die Jugendkriminalität derzeit leicht ansteige, sagt Oelkers. Offen sei jedoch, ob die absolute Zahl der Fälle steige oder ob die Öffentlichkeit nur rascher zur Polizei gehe.
«Die gefühlte Bedrohung nimmt zu, ja. Doch man muss unterscheiden zwischen dem, was die Statistik sagen kann, und dem, was die Leute wahrnehmen.»
«Keine Kuschelpädagogik»
Die Forderung nach mehr Disziplinierung hält Oelkers für verfehlt. «Jahrhunderte lang wurden Kinder mit Eselsmützen in die Ecke gestellt. Es gab ganz harte Disziplinierungstechniken, die das Lernen behindert haben.»
In der Schulkultur der letzten 30 Jahre habe ein Wandel stattgefunden, hin zu mehr Verständnis für die Kinder, zu transparenteren Regeln und überlegteren Sanktionen. «Es ist ein Fortschritt, dass wir nicht länger disziplinieren und auf den Teufel komm raus ein Prinzip verwirklichen, sondern differenziert reagieren können. Auch mit Härte.»
Es sei ein Gewinn, dass Kinder heute zu ihrem besten Vorteil lernen könnten und trotzdem oder eher deswegen die Zielvorgaben erfüllten. «Das ist keine Kuschelpädagogik, sondern Qualitätsverbesserung. Es ist überhaupt ein Irrtum, anzunehmen, Disziplin schaffe Qualität.»
98% nicht straffällig
Die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände (SAJV) hatte vor wenigen Tagen die Instrumentalisierung des Themas «Jugendgewalt» durch die Parteien für deren Wahlkampf beklagt. Laut SAJV verwenden einzelne Parteien und Politiker verzerrte Darstellungen und stellen propagandistische Forderungen.
98% der Kinder und Jugendlichen würden nicht straffällig. Im Gegenteil engagierten sich in der Schweiz überdurchschnittlich viele Jugendliche in Vereinen und in der Projektarbeit, betonte die SAJV.
swissinfo und Agenturen
Die Umfrage wurde vom Meinungsforschungsinstitut Isopublic durchgeführt.
Dieses befragte vom 11. bis 14. Juli 1100 Personen in der Schweiz.
2005 wurden in der Schweiz laut Bundesamt für Statistik über 14’000 Jugendstrafurteile gegen Minderjährige gesprochen.
1999, als die Statistik eingeführt wurde, zählte man 12’000.
79,3% der Urteile betrafen männliche Jugendliche, 62,7% solche mit Schweizer Staatsbürgerschaft.
Seit 1999 ist ein Ansteigen der Urteile wegen Straftaten im Bereich Strassenverkehr, Straftaten gegen Leib und Leben, gegen Vermögen und Freiheit zu beobachten.
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