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Schweizer Fussballer müssen siegen

Lange Gesichter auf der Schweizer Auswechselbank bei der 1:2-Pleite gegen Luxemburg. Keystone

Holt die Schweiz am Samstag gegen Lettland nicht drei Punkte, kann sie die WM 2010 wohl abschreiben. Coach Ottmar Hitzfeld schickt in St. Gallen eine Nati aufs Feld, die noch kein Team ist, sagt ein Sportpsychologe.

Der Schock sitzt noch tief nach der Jahrhundertpleite gegen Fussballzwerg Luxemburg. Mit der blamablen 1:2-Heimniederlage gegen die Amateure aus dem Herzogtum vor einem Monat ist die Weltmeisterschaft in zwei Jahren in Südafrika schon nach der zweiten Qualifikationspartie in weite Ferne gerückt.

Dabei waren die Erwartungen fast ins unermessliche gestiegen. Die Hoffnung trägt einen Namen: Ottmar Hitzfeld. Der deutsche Startrainer sollte die Schweizer Fussballer nach der missratenen Europameisterschaft im eigenen Land unter Vorgänger Köbi Kuhn rasch wieder auf die Strasse des Erfolgs führen, sprich ans Kap.

Doch auch Hitzfeld, einer der Erfolgreichsten seines Fachs, konnte keine Wunder vollbringen. Im Gegenteil. Die Talfahrt der Schweizer Nati ging weiter: Dem frustrierenden Remis im Qualifikations-Auftakt gegen Israel folgte die grösste Blamage der jüngsten Schweizer Fussballgeschichte.

Team aufbauen unter Erfolgsdruck

Der Katzenjammer sorgte für grosse Buchstaben im Blätterwald und laute Töne am Stammtisch. Not tut aber eine nüchterne Analyse. Dies ist das Gebiet von Jörg Wetzel. Der Sportpsychologe betreute jüngst das Schweizer Olympia-Team in Peking und jenes von Turin 2006, zudem diverse Schweizer Nationalmannschaften.

Während viele Kritiker sich am Unvermögen auf dem Rasen stiessen, rückt der 40-jährige Solothurner Defizite abseits des Spielfelds in den Fokus. «Die Nationalmannschaft ist noch gar keine Mannschaft», lautet seine zentrale Feststellung.

Im Prozess der Teambildung sieht Wetzel Ottmar Hitzfeld im Dilemma. Ein neuer Coach müsse sich erst etablieren sowie Normen festlegen und Rollen definieren, was Zeit erfordere. «Es funktioniert aber nicht, wenn man mit der Mannschaft in sehr kurzer Zeit Leistung erbringen muss», sagt Wetzel gegenüber swissinfo.

Genau das aber muss Hitzfeld mit seiner Elf, umso mehr, als die Schweiz nach den ersten beiden Qualifikationsspielen mit einem Punkt an vorletzter Stelle in der Gruppe liegt.

Nimmt die Schweiz die Hürde Lettland, wartet am nächsten Mittwoch gleich der grosse Brocken: In Piräus trifft die Schweiz auf Griechenland. Der Ex-Europameister liegt nach zwei Spielen mit dem Punktemaximux an der Spitze der Gruppe 2. Schafft die Schweiz in diesen beiden Partien nicht vier Punkte, ist der Traum der WM-Teilnahme 2010 defintiv ausgeträumt.

Versäumnisse des Vorgängers

Die Wurzeln der Krise der Schweizer Fussball-Nati liegen laut dem Experten aber nicht beim Meistertrainer. Was Wetzel an der Euro 2008 von der Schweizer Nati gesehen hatte, lässt ihn zweifeln, dass sie im Juni als Team aufgetreten sei. «Es gibt gewisse Regeln, damit ein Team leistungsfähig ist.» Die sah Wetzel nicht eingehalten.

Auch wenn der Name Köbi Kuhns nicht fällt, wird Wetzel konkreter. «Im Vorfeld der Euro 2008 fielen Zielsetzung und Klärung der Rollenidentitäten zu vage aus.» Auch sei Kuhns Mannschaft nicht durch einen produktiven Prozess gegangen. Vielmehr hätten sich die Spieler von einer Art Erfolgswelle zur Teilnahme an der Europameisterschaft spülen lassen.

Mängel sieht er auch in der Nachbereitung. «Nach ihrem Ausscheiden wurde die Mannschaft gegen aussen zu harmonisch dargestellt.» Da brauche selbst ein Ottmar Hitzfeld viel Zeit, die Verhältnisse wieder ins Lot zu bringen.

Luxusgut Zeit

Als Klubtrainer hatte Hitzfeld über Zeit im Überfluss verfügt, er arbeitete täglich mit seiner Mannschaft Bayern München. Jetzt kann er sich glücklich schätzen, wenn ihm seine Spieler für ein viertägiges Trainingslager zur Verfügung stehen. Wie diese Woche vor dem Schlüsselspiel gegen die Letten.

Der Berg an Arbeit, den der neue Trainer zwischen Qualifikationsspielen und Trainingslagern abtragen muss, ist fast so hoch wie die Gipfel der Schweizer Alpen. «Hitzfeld ist gefordert, das zu tun, was viele Nationalmannschafts-Trainer unterlassen: Kontakte zu den Klubtrainern seiner Spieler hegen und pflegen», betont der Psychologie-Profi. Dazu komme der Austausch mit seinen Scouts.

Dass viele Spieler zwar im Ausland unter Vertrag stehen, in ihren Vereinen aber kaum eingesetzt werden, macht es für den Coach und seinen Stab nicht einfacher.

Im Zentrum aber stehen die persönlichen Kontakte zu seinen Spielern, per Mail und Telefon, aber auch anlässlich von Besuchen. «Dabei sieht er, wo die Spieler stehen und welches Potenzial sie für welche Rolle innerhalb der Nati haben», sagt Wetzel. Dabei zähle nicht nur, was Hitzfeld auf dem Rasen sehe, sondern auch daneben.

Hitzfeld hat fast alles erreicht, wovon ein Klubtrainer träumen kann. So gewann er mit Dortmund und Bayern zweimal die Champions League, die prestigeträchtigste Trophäe im Klubfussball. Aber eines kann auch er nicht: zusätzliche Zeit aus dem Hut zaubern.

Spieler in Verantwortung nehmen

Doch Wetzel glaubt, dass Hitzfeld mit der Schweizer Nati die Wende schaffen kann. Einerseits kenne Hitzfeld die Schweizer Mentalität und den Schweizer Fussball bestens, andererseits könne er sehr gut mit echten – und vermeintlichen – Stars umgehen.

Auch hier wird Wetzel konkret. «Ich traue ihm zu, dass er die Weiterentwicklung unserer in Anführungszeichen verwöhnten und verweichlichten Spieler vorantreiben kann.»

Falls Hitzfeld das Schweizer Fussballwunder nicht bewirken kann, plädiert der Experte, nicht den Trainer zu hinterfragen, sondern die Spieler. «Hitzfeld muss ihnen bewusst machen, in welcher Verantwortung sie stehen. Es ist eine Chance, sich im Sport, dieser Spielzeugabteilung des richtigen Lebens, weiter zu entwickeln.»

Bringe er die Spieler voran, bringe er auch die Mannschaft voran. Am Samstagabend wissen wir mehr darüber, wie bewusst sich Barnetta, Behrami, Benaglio, Inler & Co. ihrer Verantwortung als Träger des roten Trikots der Schweizer Nationalmannschaft sind.

swissinfo, Renat Künzi

Stand nach zwei Runden

1. Griechenland 6 Punkte
2. Israel 4
3. Lettland 3
4. Luxemburg 3
5. Schweiz 1
6. Moldawien 0

Bisherige Partien der Schweiz: 2:2 gegen Israel, 1:2 gegen Luxemburg.

Die Sieger der neun europäischen Gruppen sind direkt für die WM qualifiziert.

Die besten Zweitplatzierten ermitteln in einer Barrage weitere vier Teilnehmer.

2008

11.10.: Schweiz-Lettland
15.10.: Griechenland-Schweiz

2009

28.3.: Moldawien-Schweiz
1.4.: Schweiz-Moldawien
5.9.: Schweiz-Griechenland
9.9.: Lettland-Schweiz
10.10.: Luxemburg-Schweiz
14.10.: Schweiz-Israel

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