Schweizer Geld für Warschauer «Bähnli»
Polens Hauptstadt Warschau wächst, die Zahl der Pendler im öffentlichen Verkehr nimmt zu. Doch das Rollmaterial ist veraltet. Die Vorortsbahn Warszawska Kolej Dojazdowa WKD soll mit Geldern aus dem Erweiterungsbeitag ("Kohäsions-Milliarde") der Schweiz auf einen neuen Stand gebracht werden.
Das Zentrum von Warschau, gleich neben dem Kulturpalast, dem berühmten Wahrzeichen der Stadt: modernste Einkaufsgalerien, eine Art Stadtpark auf verschiedenen Ebenen, viel Grün, viel Konsum, Musik und Menschenmassen, Markenreklamen von Armani bis Zara.
Daneben als Gegenstück eine schlichte Tafel mit dem rot-weiss-blauem Emblem WKD. Sie zeigt aber nicht in einen der lichtdurchfluteten Shops, sondern nach unten in einen grauen, düster bröckelnden Betonkorridor – der noch sozialistischen Mief aus den 70er-Jahren verströmt.
WKD steht für Warszawska Kolej Dojazdowa und gemeint ist ein Vorortszug, der das Stadtzentrum mit dem Südwesten verbindet. Er ist in Warschau so bekannt wie in Zürich die Üetlibergbahn oder in Bern das Blaue Worber Bähnli.
Jahrhundertkontrast
Der Kontrast zwischen konsumorientiertem 21. Jahrhundert und verkehrstechnischem 19. Jahrhundert ist typisch für das heutige Polen. Er zeigt, wie viel Nachholbedarf das Land noch hat, etwa im Bereich des öffentlichen Verkehrs.
Das war nicht immer so: Als in der Schweiz noch die letzten Saubanner-Züge aufeinander losgingen, wurde 1846 bereits die Zugverbindung von Warschau nach Wien eröffnet.
Die Stimmberechtigten haben Ende 2006 das Bundesgesetz über die Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas («Bundesgesetz Ost») gutgeheissen.
Damit haben sie auch Ja gesagt zum Erweiterungs-Beitrag von einer Milliarde Franken, mit dem sich die Schweiz am Abbau der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in der erweiterten EU beteiligen soll.
In Kooperation mit dem jeweiligen Land werden Projekte in folgenden Bereichen umgesetzt: Sicherheit, Stabilität und Reformen; Umwelt und Infrastruktur; Förderung der Privatwirtschaft; menschliche und soziale Entwicklung.
Auch die WKD hat ihre Tradition: Als erster elektrifizierter Zug (Railcar) Polens wurde die Privatbahn 1927 für den Vorortsverkehr vom Stadtzentrum nach Grodzisk Mazoniecki eröffnet. Nach den Zerstörungen im Weltkrieg folgte die kommunistische Verstaatlichung.
Erst 1972 wurden 31 neue Einheiten sozialistischer Machart angeschafft, um die uralten, noch in England erstandenen Railcars der zwanziger Jahre zu ersetzen. Und diese 72er-Modelle sind immer noch in Betrieb!
Sauber und gepflegt, aber wenig effektiv
Inzwischen transportieren die Einheiten, ständig renoviert und überholt, jährlich zwischen 6 und 7 Millionen Passagiere von der Peripherie ins Stadtzentrum und zurück. Alles in den Zügen wirkt sauber und gepflegt, es gibt wenig Schmierereien und Vandalismus.
Und doch fehlt es an Vielem: „Das digitale Zeitalter, sei es in der Zug-, Geleise- oder Signaltechnologie, ist bei uns noch nicht angekommen“, sagt Krzysztof Kulesza, Strategieplaner bei der WKD. «Auch in Westeuropa gängige Formen der Passagierinformation über elektronische Bildschirme, GPS- und Internet-basierte Überwachungssysteme haben wir noch nicht.»
Fast 500 Mio. Franken allein für Polen
Mit Geld aus der Schweiz soll nun vieles besser werden. Im Rahmen der Infrastrukturprojekte des Schweizerischen Erweiterungsbeitrags hat das WKD-Management deshalb einen Vorschlag zuhanden des Schweizerischen Erweiterungsbeitrags-Büros (Contribution Office) in Warschau ausgearbeitet.
Diesen Erweiterungsbeitrag, auch «Kohäsions-Milliarde» genannt, hatte das Schweizer Stimmvolk 2006 in Form des «Bundesgesetzes Ost» genehmigt. Seit 2007 finanziert die Schweiz mit dieser Milliarde Projekte zugunsten von zehn Ländern, die der EU 2004 beigetreten
waren.
Fast die Hälfte dieser Summe entfällt auf das grösste und bevölkerungsreichste dieser Länder, nämlich Polen.
Nachhaken und präzisieren
Die Erstversion der Eingabe ist von den polnischen Behörden positiv beurteilt worden. «Das Schweizer Büro hat daraufhin nachgehakt und noch einige Präzisierungen vorgeschlagen», sagt Heinz Kaufmann, der Verantwortliche für alle Erweiterungsbeitrags-Projekte des Bundes in Polen.
«Dazu gehören Aspekte wie die Integration der WKD in die Modernisierung des öffentlichen Verkehrs des Landes, eine Internet-basierte Unterstützung, Behindertengängigkeit sowie Synergien bei einem möglichen Geleiseweiterbau Richtung Flughafen.»
Was fehlt, ist klar ersichtlich
Da es wenig zusätzlichen Abklärungsbedarf brauche, ist dieses Vorortsbahnprojekt laut Kaufmann eines der problemlosen im grossen Projekte-Portfolio des Contribution Office.
Die Erweiterungs-Milliarde der Schweiz versteht sich auch als Solidaritätsbeitrag zu jenen insgesamt 100 Mrd. Franken (67 Mrd. Euro), welche die alten EU-Länder den Neuen zugesichert hatten. Diese Beiträge müssen bis 2013 gesprochen und bis 2015 ausbezahlt werden.
Aus Schweizer Wirtschaftskreisen wurde kritisiert, dass die Beiträge nicht explizit an die Bedingung geknüpft wurde, Schweizer Lieferanten oder Experten zu berücksichtigen.
Bei vielen Projekten sind aber Schweizer Firmen oder Experten involviert.
Jeder, der mit dem Bähnchen die Strecke abfährt, sieht von blossem Auge, was alles fehlt.
Bei der gegenwärtig laufenden Privatisierung von anderen polnischen Bahnunternehmen würde das Betreiben (Operating) der Züge oft vom Besitz und Unterhalt der Geleise, des Trassees und der Bahnhöfe entflechtet. Dies führe, so Kaufmann, der Tendenz nach zu «englischen Verhältnissen». Damit sind im Bahnjargon Komplikationen gemeint.
Besitzverhältnisse ähnlich wie bei Schweizer Privatbahnen
«Die WKD ist dagegen in der glücklichen Lage, den Betrieb der Züge mit der Verantwortung für die Geleise und dem Unterhalt der Haltestellen und Stationen selbst managen zu können», sagt Kaufmann.
Im Jahr 2000 hatten sich sämtliche Warschauer Pendlerzüge inklusive der WKD von den Landesbahnen (Polnische Staatsbahnen PKP) getrennt. Und 2007 kaufte ein Konsortium unter der Leitung der Regionalregierung von Masowien, zu der auch Warschau gehört, die WKD.
Eine Besitzlösung, so Kaufmann, die ihn in Vielem an die Besitzverhältnisse von zahlreichen Schweizer Privatbahnen erinnere.
Viel Engagement auch vom Staat
Noch steht der endgültige Entscheid über das WKD-Projekt aus. Sollte das Projekt aber durchkommen, würde der polnische Staat 14,7 und die Schweiz 20 Millionen Franken in die Modernisierung der WKD-Infrastruktur einbringen.
Damit könnten sechs neue Zugs-Kompositionen erworben, ein zeitgemässes Monitoring eingeführt und mit einem entsprechenden Training der 230 Mitarbeitenden begonnen werden. Pünktlichkeit und Sicherheit müssen sie als Angestellte einer über 80-jährigen Eisenbahngesellschaft nicht mehr lernen. Aber eine Menge Elektronik und digitale Anwendungen, die den Fahrkomfort verbessern und die Fahrzeiten verringern.
Thematische Felder für Erweiterungsbeiträge:
1. Sicherheit, Stabilität und Unterstützung der Reformen:
Zum Beispiel Ausbau der Verwaltungskapazitäten, Zugang zu Info-Systemen, Modernisierung des Justizwesens, nukleare Sicherheit, Initiativen in Randgebieten.
2. Umwelt und Infrastruktur:
Zum Beispiel Sanierung und Modernisierung der Infrastruktur (Energie, Trink- und Abwassersysteme), Verringerung des Schadstoffausstosses, Entwicklung von Standards und Normen, Entsorgung, Sanierung verseuchter Gebiete.
3. Förderung der Privatwirtschaft:
Zum Beispiel Förderung des Exports besonders von KMU-Firmen, Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten, Unterstützung bei Unternehmensführung, Regulierung des Finanzsektors, Ausbau der Finanzmärkte, Schutz des geistigen Eigentums.
4. Menschliche und soziale Entwicklung:
Zum Beispiel Ausbildung, Forschung und Entwicklung, Stipendien, Gesundheitssektor, Partnerschaften zwischen Städten und Gemeinden.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch