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Schweizer im Ausland haben Rechte und Pflichten

Rückkehr des Berner Paares am 15. März aus der neunmonatigen Geiselhaft in Pakistan. Keystone

Schweizer sollen künftig nicht mehr ungestraft abenteuerliche Aktionen in ausländischen Risikoregionen unternehmen. Diese Ankündigung von Aussenminister Burkhalter erfolgt in einer Zeit, in der auch die Schweiz internationale Krisen zu spüren bekommt.

Am Dienstag ist es eine Lawine, die in Norwegen vier Schweizer Skifahrer tötet, am Mittwoch ein Erdbeben in Mexiko, am Donnerstag ein Putsch in Mali: eine beladene, aber nicht ungewöhnliche Woche für Christian Dussey, Chef des Krisenmanagement-Zentrums (KMZ) des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA).

«Bei jeder Krise gehe ich davon aus, dass es Schweizer Opfer geben kann. Die Schweiz gehört zu den fünf europäischen Ländern, die am meisten Auslandreisende hat. Wir müssen Tag und Nacht bereit sein, schnell zu reagieren, denn die ersten Stunden sind entscheidend», sagt der 46-jährige Botschafter gegenüber swissinfo.ch. Dussey ist Offizier im Generalstab und ehemaliger Mitarbeiter des Strategischen Nachrichtendienstes (SND).

Kaum waren am 15. März zwei Geiseln nach neunmonatiger Gefangenschaft in Pakistan in die Freiheit zurückgekehrt, wurde in Jemen eine Mitarbeiterin einer Nichtregierungs-Organisation (NGO) entführt. Die Schweiz zählt eine weitere Geisel auf den Philippinen sowie eine in Mexiko vermisste Person.

Eigenverantwortung verlangt

Der neue Schweizer Aussenminister Didier Burkhalter verurteilte «die Industrie der Entführungen». Gleichzeitig erklärte er jedoch, es müsse unbedingt über die Eigenverantwortung für die persönliche Sicherheit und die Grenzen der staatlichen Intervention nachgedacht werden.

Im Klartext heisst das, dass es sich leichtfertige Leute zweimal überlegen sollten, bevor sie ein Risiko bei Al Kaida oder den Taliban eingehen. Denn künftig will die Schweizer Regierung solche Leute zur Kasse bitten. Bern bezahlt zwar offiziell «kein Lösegeld», doch die Hilfe für Entführungsopfer kostet viel, mit den Fällen müssen sich mehrere Regierungsmitarbeiter beschäftigen, und dies manchmal während Monaten.

Mobilitätsexplosion

Die Kosten steigen, weil die Mobilität der Schweizer in den letzten zehn Jahren massiv zugenommen hat. Es gibt 700’000 Auslandschweizer (10% der Bevölkerung), und Schweizer unternehmen jährlich 16 Millionen Auslandreisen.

Zudem ist die Welt komplexer geworden. «Terrorismus, Aufstände, Atomkatastrophen, Tsunamis, politische Veränderungen, Vogelgrippe, Erdbeben, Arabischer Frühling: Die Aktualität bewegt sich seit 2008 im Eiltempo. Dazu kam eine Reihe von Entführungen», so Dussey.

«Geändert hat sich auch, dass die Krisen sich nicht mehr folgen, sondern gleichzeitig auftreten. Und das im Eilschritt, derweil die Erwartungen der Öffentlichkeit und der Druck der Medien grösser geworden sind. Alle europäischen Länder sind mit denselben Herausforderungen konfrontiert.»

Voraussehen und vorbeugen

Um diesen Herausforderungen zu begegnen, wurde am 1. Juni 2011 das Krisenmanagement-Zentrum KMZ geschaffen. Sein Zweck: Nicht mehr nur reagieren, sondern die Krisen voraussehen und den Risiken vorbeugen.

An der Bundesgasse 32 in Bern, im «Krisensaal» verfolgt ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes laufend die Aktualität, auch auf CNN, BBC, France 24 oder Al-Jazira. Jeden Monat treffen sich Vertreter aller betroffener Dienste der Bundesbehörden zu einer Sitzung für die Sicherheit der Schweizer im Ausland.

Daraus entstehen die verfeinerten Reisehinweise, das wichtigste Präventionsinstrument, die auf der Internetseite des EDA und auf Twitter publiziert werden.

Christian Dussey ist fest entschlossen, die Verhaltensweisen zu ändern: «Eine Woche nach der Entführung des Schweizer Paares in Pakistan haben die Visa-Anfragen während einer Woche deutlich abgenommen, doch schon in der folgenden Woche nahmen sie wieder zu. Das hat uns irritiert.»

Intervention in Geiselfällen nur hilfsweise

Wenn es zu einem schwierigen Fall im Ausland kommt und der Schweizer Bürger alles versucht hat, kommt Bern zum Zug. Die individuellen Fälle werden unter dem vom EDA wahrgenommenen konsularischen Schutz behandelt.

«Die Auslandschweizer kennen sich vor Ort aus und wissen sich im allgemeinen selber zu helfen», betont der Botschafter. «Unser grösstes Problem sind eher die isolierten Touristen, die das Land nicht oder kaum kennen und sich in gefährliche Regionen wagen.»

Entführungsfälle sind zu heikel, als dass Dussey ins Detail gehen möchte. Sie sind für ihn aber ein Alptraum, weil Menschenleben auf dem Spiel stehen und die Mediatisierung noch zusätzlichen Druck ausübt.

«In solchen Fällen muss die Verantwortung für eine Lösung in erster Linie vom Staat, in dem die Entführung stattgefunden hat, übernommen werden. Wir intervenieren lediglich hilfsweise», erklärt der KMZ-Chef.

Eine Frage der Souveränität

swissinfo.ch hat mit einer Person, die anonym bleiben soll, gesprochen, die in gewisse Entführungs-Dossiers involviert war. «Die erste Grenze, die sich der Schweiz stellt, ist die Art der möglichen Zusammenarbeit mit dem betroffenen Land und dessen Wahrnehmung des Falls. Man muss die möglichen Ansprechpartner identifizieren, das Vertrauen evaluieren, das man ihnen entgegenbringen kann, und dann beginnen, via Mittelsmänner zu verhandeln.»

Offiziell könne ein Land nicht sagen, dass es Lösegeld bezahlt habe. «Aber in mehreren Fällen sind die Geiseln unversehrt zurückgekommen: Es ist also etwas passiert. Aber es ist nie eine einfache Angelegenheit, denn ein Land kann kein Lösegeld bezahlen, ohne dies mit der Regierung des betroffenen Staates abzusprechen. Es ist eine Frage der Souveränität», sagt der Experte.

«Es kann auch geschehen, dass die Entführer direkt mit den Familien ihrer Opfer Kontakt aufnehmen. Das ist zum Beispiel der Stil von Abu Sayyaf auf den Philippinen, wo die Piraterie eine alte Tradition hat. Und schliesslich kann die Schweiz als Rechtsstaat selbst keine Befreiungsaktion der Geiseln vornehmen.»

Die Botschaften unterstützen

Das KMZ will auch die Schulung des diplomatischen Personals, die oft mangelhaft ist, verbessern. «Zu einer grösseren Krise kommt es, wenn eine Botschaft ihre Aktivitäten aufgeben muss, um sich in eine Notfallzentrale umzuwandeln. Es kann dabei sogar geschehen, dass ihre Sicherheit auf dem Spiel steht. 2010 haben wir bei 15 Krisen eingreifen müssen, 2011 waren es deren 12», sagt Dussey.

Es wurde ein Krisenpool gebildet mit Teams auf jedem Kontinent, die sich innerhalb von drei bis vier Stunden vor Ort begeben können. Auch Kurse werden organisiert, an denen während 24 Stunden eine Krise simuliert wird.

Schliesslich spielen die neuen Medien eine immer wichtigere Rolle. «Das begann 2010 beim Erdbeben in Haiti: Die Familien konnten dank Facebook miteinander kommunizieren. Heute informieren wir in Schwierigkeit geratene Schweizer Bürger via SMS», so Dussey. «Und jeder Fall ist eine Erfahrung, die unsere Kompetenz und Effizienz verbessern hilft.»

Die Tätigkeiten des Aussenministeriums sind in einem diplomatischen Reglement festgehalten, das sich an die Verfassung anlehnt.
 
Es verlangt, dass die Schweiz den Schweizern im Ausland zu Hilfe kommt.
 

Die Auslandschweizer-Organisation (ASO) verlangt seit Jahren ein Gesetz für Auslandschweizer auf der Basis von Art. 40 der Bundesverfassung zu den Schweizern im Ausland.

Der Bundesrat ist zur Zeit damit beschäftigt, die Rechte, aber auch die Pflichten der Fünften Schweiz festzulegen.

Im Parlament verlangen gewisse Abgeordnete, dass sich Schweizer Touristen oder Gesellschaften, welche «die Schweiz in Gefahr bringen» (Carlo Sommaruga), finanziell mit einer fixen oder variablen Gebühr beteiligen.

Diese Möglichkeit besteht bereits. So musste ein Ehepaar, dass 2009 als Geisel genommen wurde, 40’000 Fr. zurückzahlen.

Bestimmungen darüber könnten in das künftige Auslandschweizer-Gesetz aufgenommen werden. Eine bestimmte Summe festzulegen, ist jedoch schwierig.

Auch wer die Summe bezahlen muss, ist schwierig zu bestimmen: Es kommt darauf an, ob es sich bei der betroffenen Person um einen  NGO-Mitarbeiter, einen Arbeitnehmenden eines Schweizer Unternehmens, einen langjährigen Auslandschweizer oder um einen Touristen handelt.

Eine Sub-Kommission befasst sich mit der Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfs und sollte diesen vor kommendem Winter der Staatspolitischen Kommission des Ständerats überreichen.

Die politische Abteilung oder Division VI des EDA («Krisenstab») wurde 1999 nach dem Terroranschlag im ägyptischen Luxor 1997 gegründet.

Sie umfasst den Auslandschweizerdienst, die Sektion Konsularischer Schutz und seit Juni 2011 das Krisenmanagement-Zentrum KMZ sowie die Dienststelle Reisehinweise.

Das KMZ hat ein Frühwarn-System, einen Krisenstab und einen Kriseneinsatzpool mit rund 270 ausgebildeten Freiwilligen in der ganzen Welt eingerichtet.  

Über Internet und Twitter publiziert das KMZ EDA-Reisehinweise für 157 Länder. 10 Mitarbeitende arbeiten für das Zentrum. Das Jahresbudget beträgt 400’000 Fr.

Im Januar 2011 wurde auch die «Helpline EDA» gegründet. Ab 1. Mai 2012 wird es rund um die Uhr geöffnet sein.

Bisher war die Helpline nur tagsüber erreichbar und erhielt im Durchschnitt 2000 Anrufe und E-Mails im Monat. Sie wird von zehn Personen bedient.

Bei einer grösseren Krise kann eine Hotline mit 16 Freiwilligen errichtet werden.

(Quelle: EDA)

(Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud)

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