Schweizer «Ossie» aus Dresden
Auch in der ehemaligen DDR gab es Schweizer - aber nur im Geheimen, erinnert sich Heike Raddatz.
Die heutige Präsidentin des Schweizer Vereins Dresden wuchs gleich neben dem verminten Todesstreifen an der Zonengrenze auf.
«Auf sächsisch heisst Wilhelm Tell ‹Wilhelm Dell'», scherzt Heike Raddatz aus Dresden. Ihre Mutter war Schweizerin und hiess Beer. Als Präsidentin des Schweizer Vereins Dresden hat Heike Raddatz sogar die sächsische Mundart-Version des Schiller-Stücks auf der Website des Vereins gleich integriert.
Ihr Urgrossvater war aus dem Emmentaler Trub in die Leipziger Gegend ausgewandert. Dort arbeitete er als «Schweizer», was bis in die DDR-Zeiten hinein gleichbedeutend war mit «auf Milchproduktion spezialisierte Landwirte».
Minen und Bluthunde
Vier Jahre vor dem Mauerbau 1961 kam Heike Raddatz in Thüringen zur Welt. «Leider ausgerechnet in einem Zonengrenzdorf, in das nicht jeder rein durfte. Nachts hörten wir die Minen explodieren, wenn wieder einmal Wild in die Zone geriet, und die halbverhungerten Bluthunde jaulten, die angekettet dem Zaun entlang jagten.»
Die Mutter von Heike Raddatz, eine Deutsche, durfte ihre Schwiegereltern in diesem Grenzdorf nicht besuchen, denn sie war als «Angehörige des Klassenfeindes» stigmatisiert. Wie viele Frauen, die in den 50-er Jahren Schweizer heirateten, hatte die Mutter ihre ursprüngliche Staatsbürgerschaft, in ihrem Fall die ostdeutsche, aufgeben müssen.
So wurde sie als «angeheiratete Papier-Schweizerin» in der DDR auch beruflich diskriminiert: «Obwohl eine diplomierte Kauffrau, lag bei ihr nie mehr drin als Sachbearbeiterin», so Heike Raddatz, «von Sekretärin gar nicht zu sprechen».
Als das Energiekombinat, in dem sie arbeitete, von Kriminellen überfallen und der Firmentresor geplündert wurde, wurde sie als suspekte «Ausländerin», die nie im Ausland gewesen war, auf der Stelle verhört.
Schlimmer nach dem Prager Frühling
Nach den Prager Ereignissen von 1968 nahmen die Übergriffe des Polizeistaates zu. Obwohl die Wohnung der Eltern von Heike Raddatz verwanzt war, kriegte die Geheimpolizei nicht alles mit. Hätten die Behörden erfahren, dass Heike Raddatz automatisch Schweizerin geworden war, hätte sie kaum Chemie studieren und mit einer Dissertation abschliessen können.
Mitte der 80-er Jahre begann der geheime Schriftverkehr ihrer Familie mit der polizeilich überwachten Schweizer Botschaft in Berlin-Ost. Die Immatrikulations-Urkunde, die sie als Schweizerin auswies, «ging der Stasi irgendwie durch die Lappen». Das freut Heike Raddatz heute noch.
Nur ja keinen roten Pass!
«Die Botschaft empfahl uns dringend, keinen Pass zu beantragen, nachdem wir offiziell die Staatsbürgerschaft erhalten hatten», sagt Heike Raddatz heute. Es wäre beruflich einem «Aus» gleichgekommen.
In den 80-er Jahren heiratete Heike Raddatz einen «unverdächtigen» Deutschen. Unverdächtig in dem Sinn, als er deutscher Staatsangehöriger blieb.
Als 1983 der Sohn auf die Welt kam, entging der Stasi aber der Umstand, dass dieser gemäss Schweizer Gesetz ebenfalls Doppelbürger wurde. Wissen durfte es niemand. Nach der Wende 1989 nahm dieser Überwachungs- und Diskriminierungs-Spuk sehr schnell ein Ende.
Inzwischen ist auch der Ehemann von Heike Raddatz Schweizer. Er wird sich vermutlich künftig als Webmaster um den möglichst einheitlichen Auftritt der knapp 40 Schweizer Clubs kümmern, die von der Auslandschweizer-Organisation ASO in Deutschland anerkannt sind.
Im Ausland gern gepflegter Föderalismus
«Kein ganz einfaches Unterfangen», urteilt Matthias Raddatz vorsichtig. Denn am liebsten würde jeder Schweizer Verein in Deutschland seine Webseiten so belassen oder verändern, wie es ihm selbst am besten passt.
Mit anderen Worten, auch Matthias Raddatz macht inzwischen seine Erfahrungen mit seinen neuen Landsleuten, was die föderalistische Denkweise betrifft!
1993 wurde Heike Raddatz als Vertreterin in den Auslandschweizer-Rat, das «Parlament der Auslandschweizer», gewählt und kam erstmals in ihrem Leben nach Bern. «Ich war das erste Ratsmitglied aus einem Land hinter dem ehemaligen Eisernen Vorhang.»
Eine Sympathie zum «Osten» ist der Diplom-Chemikerin und Oberassistentin der Technischen Uni Dresden trotz allem geblieben: Sie liebt orientalische Musik und führt als Hobby einen eigenen Bauchtanz-Club.
swissinfo, Alexander P. Künzle, Hamburg
Textprobe aus dem Sächsischen Wilhelm Tell: «Dr Dell, das wär a mutcher Mann, da gam so bald gee andrer dran. Schon eißerlich gonnt mr das schaun: Sei Vollbart war dr Schwarm dr Fraun.»
In Deutschland leben rund 70’000 Schweizer Staatsangehörige.
Davon sind 3500 in der Auslandschweizer-Organisation (ASO) registriert.
Die ASO Deutschland zählt 39 Schweizer Vereine.
Der Verein in Dresden zählt momentan rund 60 Personen: Schweizer, deren Familien und Freunde.
Der neue Verein in Dresden wurde 1992 gegründet, bis 1949 hatte es schon einmal einen gegeben.
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