Sein Grossonkel «eroperte» den Wilden Westen
Seit Jahren befasst sich Armin Mazenauer mit dem Leben seines Grossonkels Joseph Anton Inauen, alias Arnold von der Aue. Mit 12 kam dieser als Knecht nach Deutschland, wirkte später als Tenor auf den Weltbühnen. 1914 verliert sich seine Spur in Amerika.
«Schon als Knabe war meine Neugierde gross», sagt der 72-jährige Armin Mazenauer aus Allenwinden im Kanton Zug. Er erinnert sich, als wäre es gestern gewesen, an die Schublade im Stubentisch, wo seine Grossmutter Fotos, Dokumente und Briefe aufbewahrte. Dort stiess er eines Tages auf das Bild seines Grossonkels Joseph Anton Inauen aus Appenzell.
«Als ich fragte, wer das sei, ging eine ganze Lawine los: Joseph Anton Inauen hat mit zwei Jahren seine Mutter verloren. Der jüngste Bruder war gerade 17 Tage alt. Der Vater verheiratete sich wieder und hatte acht weitere Kinder. Bei illegalen Jasskartenspielen verlor er Hab und Gut. Der älteste Sohn, Joseph Anton Inauen, wurde mit 12 Jahren als Knecht ins Deutsche geschickt. Eine begüterte Frau wurde später auf seine Stimme aufmerksam und finanzierte ihm eine Ausbildung am Konservatorium in Frankfurt.»
Der Grossonkel, der sich ab 1899 den Künstlernamen Arnold von der Aue zulegte, sei dann irgendwann in Amerika während eines Auftritts vor grosser Gesellschaft in ein Tiergehege geraten und von wilden Tieren angegriffen und getötet worden.
Der Unbekannte
Mazenauers Grossvater und auch andere Verwandte im Kanton Appenzell Innerrhoden hätten wenig über das Leben des weit gereisten Sängers gewusst. Manche wussten nicht einmal, dass es ihn überhaupt gab. «Man wollte nicht unbedingt über diese Geschichte reden, weil sie auch dunkle Seiten hat», vermutet Mazenauer.
Ihn jedenfalls liess die Biografie des mysteriösen und faszinierenden Grossonkels nicht mehr los. «Die Sucherei war rein spontan und erfolgte ohne Vorkenntnisse.»
Seit seiner Pensionierung vor sechs Jahren recherchiert Armin Mazenauer aber intensiv und hartnäckig und scheut keinen Aufwand. Die Aufarbeitung seines Vorfahren ist zum Hobby, zur Passion geworden.
Es gebe aber auch Monate, wo er keine Lust habe, sich mit «ihm» zu beschäftigen. «Und dann kommen wieder Schübe und es packt mich.»
Der Konzert- und Opernsänger
Anhand von Zeitungsartikeln und Postkarten, die Inauen aus aller Welt ins Appenzell geschickt hatte, begann Mazenauer, dessen Leben zu rekonstruieren: Schon in den 1890er-Jahren wurde Inauen in der deutschen Presse als grosses Talent bezeichnet.
Er trat vor allem in Deutschland auf, aber auch in London, Paris und vereinzelt in der Schweiz. Er sang auf Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch.
1903 bestieg er in Bremen ein Schiff und kam am 28. Oktober in Ellis Island, New York an. Das erfuhr Mazenauer aus der Einwanderungsakte.
Der Auslandschweizer aus dem Appenzell eröffnete in Manhattan, 586 Lexington Avenue, eine Gesangsschule, just dort, wo gut 50 Jahre später eines der berühmtesten Fotos geschossen wurde: Marilyn Monroe’s Rock hebt sich über einem Metroschacht in die Höhe.
Mazenauer amüsiert sich. Es macht ihm offensichtlich Spass, solche Randgeschichten zu erzählen. Und er hat viele auf Lager. Es ist, als ob er sich so seinen Grossonkel, den er nie kennengelernt hat, besser vorstellen könnte.
Der unstete Wanderbursche
Inauen blieb nicht lange in New York. Vielleicht, so mutmasst Mazenauer, entfloh er aber auch wachsender Konkurrenz. Denn zwei Wochen nach Inauen landete Enrico Caruso, einer der weltbesten Tenöre, in New York.
Auch in den Vereinigten Staaten hielt es von der Aue nie lange an einem Ort aus. «Er war ruhelos, ein unsteter Wanderbursche.» Er zog von der Ostküste zur Westküste, zuoberst an die kanadische Grenze, dann wieder ganz gen Süden an den Golf von Mexiko im Staat Texas. Und die Fahrten dauerten zu damaligen Verhältnissen wohl viele Tage lang.
In den letzten Monaten hat Mazenauer seine Recherchen intensiviert. Akribisch genau durchforscht er in der Schweizerischen Nationalbibliothek die Amerikanische Schweizerzeitung. Allerdings fehlten in Bern fast drei Jahrgänge.
Der Schallplattenpionier
Durch Zufall lernte er in Bern einen deutschen Historiker kennen, der für ihn in New York nach den fehlenden Mikrofilmen der Schweizer Zeitung suchte – und fündig wurde. Dank dieser neuen Quelle und dem Internetzugang zur amerikanischen Presse aus dieser Zeit erfuhr Mazenauer, dass Inauen im Jahr 1914 noch gelebt hatte. Das frühere letzte Lebenszeichen stammte aus dem Jahr 1911.
Im Moment arbeitet der Suchende aus Allenwinden wieder mit Hochdruck. Ende 2009 soll ein Buch über seinen ausserordentlichen Grossonkel erscheinen – diesmal erhält er finanzielle Unterstützung vom Kanton Appenzell Innerrhoden und privaten Institutionen.
Appenzell kann stolz sein auf seinen «berühmten» Auswanderer, denn Inauen war nicht nur ein begnadeter Konzert- und Opernsänger gewesen, sondern auch ein Pionier im Schallplattenbusiness. Von ihm stammt die allererste Plattenaufnahme der schweizerischen Landeshymne «Trittst im Morgenrot daher…» – aufgenommen 1901 in Berlin.
swissinfo, Gaby Ochsenbein, Allenwinden
1865: geboren in Appenzell.
1866 und 1867 kommen seine zwei Brüder, darunter Armin Mazenauers Grossvater, auf die Welt.
1867: Mutter stirbt im Kindsbett.
Der Vater heiratet wieder und hat noch 8 weitere Kinder.
Inauen besuchte 5 Jahre halbstags und nur im Winter die Schule.
Vater verspielt all sein Geld und muss den Landwirtschafts-Betrieb verkaufen.
1877: Inauen kommt als 12-jähriger Bauernknecht nach Deutschland.
1886: Joseph Anton Inauen kommt zur militärischen Aushebung (Rekrutierung) nach Appenzell und weist sich als Kellner aus.
Nach der Rekrutenschule ist er mit einer deutschen Gesangs-Gesellschaft in London, St. Petersburg und Hamburg unterwegs.
1890-1893: Inauen besucht das Raff-Konservatorium in Frankfurt. Eine begüterte Frau aus Hamburg finanziert das Studium.
1903: Einreise in Ellis Island, New York. In Manhattan eröffnet er eine Gesangsschule, allerdings nur für ein paar Monate.
Inauen, alias Arnold von der Aue, reist quer durch die Vereinigten Staaten und tritt in zahlreichen Städten auf.
Laut eigenen Angaben hat er bis 1910 in 40 Bundesstaaten 80 Städte besucht.
Die letzten Meldungen datieren von 1914 aus dem Mittleren Westen.
1936: Armin Mazenauer, Bürger von Appenzell, geboren und aufgewachsen in Mosnang, St. Gallen.
Bis 2001 war er Geschäftsführer der landwirtschaftlichen Genossenschaft in Zug.
Mazenauer wohnt in Allenwinden, Kanton Zug.
Im Oktober 2007 veröffentlichte Mazenauer eine Schrift über seinen Grossonkel Joseph Anton Inauen, alias Arnold von der Aue. «Vom Bauernknechtlein aus Innerrhoden zum Opern- und Konzertsänger in Europa und den USA».
Ende 2009 kommt im Verlag Appenzeller Volksfreund ein neues Buch über Joseph Anton Inauen heraus.
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