«Sexuelle Aggression ist eine Machtfrage»
Im "Fall Seebach" kommen zwei von ursprünglich 13 Angeschuldigten wegen mutmasslichen mehrfachen Vergewaltigungen vor Gericht. Doch eine Nicht-Anklage heisse nicht, dass nichts geschehen sei, sagt Regula Schwager.
Für die Psychologin und Psychotherapeutin der Beratungsstelle Castagna in Zürich ist eine Vergewaltigung nie etwas Banales.
Gegen vier weitere Jugendliche wurden wegen Pornografie, Schändung und sexuellen Handlungen mit einem Kind jugendstrafrechtliche Massnahmen angeordnet. Die Verfahren gegen die anderen sieben wurden eingestellt.
Gemäss Staatsanwalt Daniel Kloiber war es an insgesamt fünf Abenden in unterschiedlicher Gruppenzusammensetzung zu sexuellen Handlungen an der 13-Jährigen gekommen. Er sprach von «gravierenden Vorfällen».
Der junge Erwachsene, der kurz vor der Tatzeit 18 Jahre alt geworden war, gibt laut Kloiber sexuelle Handlungen mit einem Kind zu, bestreitet aber die Vorwürfe der mehrfachen Vergewaltigung, der Ausnützung einer Notlage und der Schändung.
Der Vorwurf der Pornografie hängt damit zusammen, dass die sexuellen Handlungen zum Teil mit Mobiltelefonen gefilmt worden waren.
In der Affäre des FC Thun, bei dem es ebenfalls um sexuelle Handlungen mit einer Minderjährigen geht, wurde dem Opfer sehr schnell eine Mitschuld nachgesagt.
Genau dies beschäftigt Regula Schwager von der Beratungs- und Informationsstelle Castagna in Zürich, die aber weder mit dem Fall in Seebach noch mit jenem in Thun beruflich zu tun hat.
swissinfo: Fehlen der Justiz Mittel zur Beurteilung sexueller Aggression bei Minderjährigen?
Regula Schwager: In den meisten Fällen wird keine Anklage erhoben. Das heisst aber nicht, dass nichts passiert ist. Es gibt fast nie Beweise, und die Ermittler werden mit widersprüchlichen Aussagen konfrontiert.
Leider, und das ist noch immer so, muss das Opfer beweisen, dass etwas passiert ist, obwohl eigentlich der Beschuldigte beweisen müsste, dass nichts geschehen war.
Die Opfer befinden sich aber oft auch in einer starken Abhängigkeit gegenüber den Aggressoren. Sie können sich weder verteidigen noch Nein sagen. Stehen sie vor Gericht, machen Schamgefühle klare Aussagen oft schwierig oder unmöglich.
swissinfo: Im Fall Seebach, aber auch im Fall Thun behaupten die Beschuldigten, die jungen Mädchen seien einverstanden gewesen.
R.S.: Das ist eine typische Täter-Behauptung: «Sie war damit einverstanden, sie hat mich verführt». Aber wenn ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen zwei Menschen besteht, sind sexuelle Handlungen im gegenseitigen Einverständnis schlicht nicht möglich.
Täter behaupten solche Dinge, selbst wenn die Opfer drei oder vier Jahre alt sind.
swissinfo: Die Öffentlichkeit denkt sehr schnell, ein junges Mädchen habe die Vorfälle selbst erfunden, wenn die Justiz keine Anklage erheben kann oder keine Verurteilung der Vergewaltiger stattfinden kann.
R.S.: Es mag schrecklich sein, es zuzugeben. Aber wir als Gesellschaft ziehen unbewusst jene Version vor, die uns bekömmlicher ist. Ich glaube auch, dass man sich eher mit dem Stärkeren als mit dem Schwächeren identifiziert.
Eine sexuelle Aggression ist in erster Linie eine Angelegenheit der Macht. Der Aggressor demonstriert seine Stärke. Eines der Elemente, welche die sexuelle und überhaupt alle körperlichen Aggressionen umschreibt, ist aus der Sicht des Opfers das Gefühl der Machtlosigkeit.
Dieses Gefühl wirkt stark traumatisierend. Für den Angreifer Stellung zu beziehen, ist ein Phänomen des unbewussten Widerstandes gegen die unhaltbaren Umstände.
Andererseits hat ein 15-jähriges Kind das Recht, einen Fussballer zu vergöttern. Es hat auch das Recht, ein I-Pod-Kabel zu holen, wie im Fall von Seebach. Es liegt am Mächtigeren, seine Verantwortung wahrzunehmen.
swissinfo: Gilt das auch für einen minderjährigen Angreifer?
R.S.: Der Aggressor, minderjährig oder nicht, ist immer, von A bis Z, der einzig Verantwortliche. Ein minderjähriger Angreifer mag seinen Altersunterschied zum Opfer, seine körperliche Stärke, seinen Einfluss in der Gruppe und noch viele andere Faktoren benutzen, um seine Macht auszuüben.
Die Frage stellt sich allerdings anders, wenn die Angreifer selbst Kinder, also unter zehnjährig sind.
swissinfo: Ist es widersprüchlich, wenn Opfer manchmal gleichgültig oder teilnahmslos auf das Geschehene reagieren und manchmal tief betroffen sind?
R.S.: Nein, das sind Verteidigungsmechanismen gegen traumatisierende Erinnerungen.
Ich hatte einen Fall einer Frau, die während einer sexuellen Aggression fast getötet worden wäre, aber mir alles lachend erzählt hat.
swissinfo: Haben Sie nicht manchmal das Gefühl, Sisyphus-Arbeit zu leisten?
R.S.: Es wäre naiv zu glauben, man könne die sexuelle Ausbeutung stoppen. Sieht man aber, dass es möglich ist, wieder Licht in das Leben der Opfer zu bringen und ihnen die Lebensqualität zurückzugeben, lohnt sich der Kampf auf jeden Fall.
Ich hoffe auch, dass die Gesellschaft lernt, die Vorurteile gegen die Opfer nicht zu übernehmen. Auch die extreme Not der Kinder darf nicht vergessen werden. 80 bis 90% der Opfer sexueller Aggressionen sind Kinder, die still leiden.
swissinfo, Ariane Gigon, Zürich
(Übertragung aus dem Französischen: Etienne Strebel, Alexander Künzle)
Am 16. November 2006 verhaftete die Zürcher Polizei 12 minderjährige Jugendliche und einen 18-jährigen Volljährigen. Sie wurden verdächtigt, bei einer Vergewaltigung einer 13-jährigen Schülerin beteiligt gewesen zu sein, an zwei Abenden in Folge, im Zürcher Seebach-Quartier.
Gemäss der Befragung des Opfers, die im November 2007 teilweise, aber ohne grosses Echo von der Presse publiziert wurde, sagte die Schülerin, sie wäre lieber gestorben.
Nach der ersten Befragung konnte das Opfer aus gesundheitlichen Gründen während Wochen nicht mehr befragt werden.
Die Affäre wirbelte umso mehr Staub auf, als es sich bei den mutmasslichen Tätern um Ausländer handelte. Einige Wochen vorher hatte bereits eine Affäre in Steffisburg zu Reden gegeben. Dort ging es um eine kollektive Aggression von ebenfalls meist ausländischen Jugendlichen gegen eine 14-jährige Schülerin.
Im Juli 2007 hat das Berner Oberländer Gericht für Minderjährige 5 der 8 Angeklagten freigesprochen. 2 sind wegen sexueller Aggression bedingt verurteilt worden, ein Fall ist noch hängig.
Am 13. November 2007 hat die Polizei in Thun unter anderen auch Spieler des FC Thun verhaftet, die sich an einer 15-Jährigen vergangen haben sollen. Die Ermittlungen sind in diesem Fall noch im Gang.
Die Beratungs- und Informationsstelle Castagna ist seit 1993 vom Kanton Zürich anerkannt als Hilfezentrum für Opfer, das heisst für sexuell ausgebeutete Kinder, weibliche Jugendliche und in der Kindheit ausgebeutete Frauen.
Castagna war die erste Stelle dieser Art in der Schweiz.
Die Beratungen sind kostenlos.
2006 hat Castagna 1114 Personen aus der ganzen Schweiz behandelt, im Vorjahr 974.
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