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«Soziale Probleme werden nur noch verwaltet»

Angeline Fankhauser im Gespräch mit swissinfo swissinfo.ch

Abgewiesene Asylbewerber erhalten keine Sozialhilfe mehr. Die Schweiz will damit den Ausreisedruck erhöhen. Kantone, Städte und Hilfsorganisationen kritisieren die Massnahme.

Für die ehemalige Nationalrätin Angeline Fankhauser ist das Vorgehen praktisch ein «Aushungern der Leute».

Abgewiesene Asylbewerber erhalten seit dem 1. April lediglich eine einmalige Nothilfe von 600 Franken, anstelle der bisher ausbezahlten Sozialhilfe.

Damit will der Bund schon im laufenden Jahr 15 Mio. Franken einsparen, in den folgenden Jahren bedeutend mehr. Zudem soll mit der Massnahme die «Attraktivität der Schweiz als Zielland für Asylsuchende» vermindert werden. Kantone. Städte und Hilfswerke wehrten sich gegen diese Verschärfung des Asylrechts.

Angeline Fankhauser war während 16 Jahren (1983-1999) Nationalrätin der Sozialdemokratischen Partei. Sie hat sich in dieser Zeit intensiv für die Menschenrechte und eine humane Asylpolitik eingesetzt.

swissinfo: Sie sind seit mehr als vier Jahren nicht mehr im Parlament. Wie haben Sie die Entwicklung der Asylpolitik in dieser Zeit erlebt?

Angeline Fankhauser: Zuerst hatte ich das Gefühl, die Asylpolitik verschwinde ein wenig von der politischen Agenda. Und doch erlebe ich jetzt Verschärfung um Verschärfung. Schliesslich wird das, was die Anti-Asyl-Politiker wollten, nach und nach verwirklicht.

Die Menschenrechts-Bewegung ist relativ versteckt, nicht sehr sichtbar. Ich habe das Gefühl, die Asylfrage sei eine rein bürokratische Frage geworden. Der Nachwuchs beschäftigt sich mit Krieg und Terror. Menschenrechts-Fragen sind nicht mehr sexy.

swissinfo: Seit dem 1. April erhalten abgewiesene Asylbewerber keine Sozialhilfe mehr. Damit will die Regierung Geld sparen und den Ausreisedruck erhöhen. Wie reagieren Sie auf diesen Entscheid?

A.F.: Das ist schlimm. Während meiner Zeit im Parlament gab es eine Diskussion um eine Inhaftierung der abgewiesenen Asylbewerber, damit man sie besser ausschaffen kann. Die Politik musste feststellen, dass dies grundsätzlich nicht geht – schon wegen der Menschenrechte – aber auch, weil das viel zu teuer wäre.

Jetzt macht man das anders. Ich will nicht gerade sagen, dass man die Leute aushungert, aber man nimmt ihnen den Teppich unter den Füssen weg und hofft, dass sie verschwinden. Das ist eine Hilflosigkeit.

swissinfo: Die Flüchtlingshilfe befürchtet nun ein Abtauchen der abgewiesenen Asylbewerber in die Illegalität. Wieso?

A.F.:In vielen armen Ländern ist das Überleben wichtiger als das Leben. Es ist immer wieder erstaunlich, wie stark das Leben im Menschen verankert ist. Wenn der Mensch leben will, findet er alle möglichen Lösungen.

Das fördert die Illegalität und ist der Anfang vom Ende einer geregelten Gesellschaft. Asylpolitik hat dann nichts mehr mit der Frage zu tun, was der Mensch braucht.

swissinfo: Die Massnahmen betreffen die abgewiesenen Asylbewerber. Zweifeln Sie an den Verfahren, die zu den ablehnenden Entscheiden führen?

A.F.:Nein, ich denke, die Verfahren sind korrekt. Aber die Verfahrensregeln sind generell neben der Realität. Migrationspolitik und Asylpolitik sind grosse Herausforderungen der modernen Gesellschaft.

Man propagiert die Mobilität, aber nur die Mobilität der reichen Leute, und will dabei nicht wahrhaben, dass die grosse Mehrheit der Bevölkerung eben arm ist. Diese Mehrheit holt sich auf irgendeine Art ihre Rechte. Man müsste diese Fragen einmal auf ökonomischer Ebene international und menschenrechtlich neu anpacken und lösungsorientiert daran arbeiten.

Das grundsätzliche Ziel bleibt natürlich, dass es den Ländern, aus denen die Leute kommen, die bei uns um Asyl bitten, besser geht. Wer zuhause Möglichkeiten der Mitgestaltung hat und überleben kann, der flüchtet nicht.

swissinfo: Das ist – zumindest kurzfristig – keine realistische Lösung in der aktuellen Auseinandersetzung um das Asylproblem.

A.F.: Ich bin einverstanden, aber es ist wie mit allem in der Politik: Sie müssen zweigleisig fahren. Aber in dieser Frage fahren wir nur eingleisig, man hat die Repression Scheibe um Scheibe entwickelt. Und das hat zur Folge, dass oft jene Leute Asyl erhalten, die ihre Situation besser verkaufen können als andere.

swissinfo: Breite Bevölkerungskreise begrüssen die Verschärfungen im Asylbereich. Was läuft da aus Ihrer Sicht falsch?

A.F.: Die Diskussion wurde angeheizt durch die so genannten «Missbräuche». Zuerst hat man abgeschwächt und gesagt, die «Missbräuche» seien nicht die Hauptfrage der Asylpolitik. Ich sage das immer noch. Trotzdem hätte man parallel diese «Missbräuche» genauer anschauen sollen.

Es gab zwei Lager. Die Leute, welche die «Missbräuche» anprangerten und nur diese sahen, und die Leute, welche eine grundsätzliche Asylpolitik realisieren wollten und keine Kraft mehr hatten, sich auch noch mit den «Missbräuchen» zu befassen. Das hat die Stimmung kaputt gemacht. In den Dörfern und Quartieren haben die Leute plötzlich nur noch diese «Missbräuche» gesehen.

Viele Ausländerinnen und Ausländer kamen mit sehr hohen Erwartungen zu uns und stellten fest: Hier gibt es alles. Das war ein Kulturschock. Sie konnten damit nicht so umgehen, wie das die Leute im Berner Oberland oder im Entlebuch erwartet haben.

Die Asylbewerber hatten grosse Erwartungen an einen Rechtsstaat, an eine Demokratie, waren sehr oft hoch gebildet und mussten als Kellner oder Strassenwischer arbeiten. Zum Teil haben sie das nicht verstanden und sich dagegen aufgelehnt. Auch dieses Verhalten nannte man «Missbrauch».

Viele Schweizerinnen und Schweizer haben nicht ertragen, dass diese Leute ihre Rechte wahrgenommen und ausgeschöpft haben.

swissinfo: Wieweit spielt es denn eine Rolle, dass für die Linke und für die Menschenrechts-Bewegung die «Missbräuche» eher tabu waren und es teilweise immer noch sind?

A.F.: Das ist schwierig zu sagen. Die Linke ist in dieser Frage immer in der Defensive. Verglichen mit den dreissiger Jahren, hört man heute wenig von den intellektuellen Flüchtlingen. Ich denke, sie getrauen sich nicht zu sagen, was sie zu sagen hätten.

Man verwaltet diese Menschen, quartiert sie ein, versorgt sie und schiebt sie in zermürbende Wartefristen. Aber ihre Grundbedürfnisse nach Meinungsfreiheit, Entfaltung und Utopie sind in keinem Programm enthalten.

swissinfo: Was sagen sie den Schweizern, die diffuse Ängste haben. Stichworte: Gewalt an den Schulen, Drogenhandel?

A.F.: Kriminalität ist ein Faktor der heutigen Gesellschaft. Es ist eine Tatsache, dass Flüchtlinge zum Teil Täter sind. Aber man kann nicht verallgemeinern. Gegen die Kriminalität erwarte und verlange ich Massnahmen. Aber man kann nicht die Asylbewerber anders behandeln, weil sie Asylbewerber sind. Für Straftaten müssen die Gesetze angewandt werden.

Ich will auch keine kriminellen Asylbewerber hier. Ein grosses Problem ist, dass man sie nicht in ihre Länder zurückführen kann. Da muss man sich fragen, was das für Länder sind, die ihre Kriminellen exportieren.

Ganz generell mangelt es auch an Konzepten zur besseren Integration, zur Zusammenführung der Familien. Die Anpassung findet nicht von selbst statt.

Als ich Kind war, hatte man in den grossen Städten Angst vor den Freiburgern und Wallisern, vor allem vor den Kindern aus armen Verhältnissen. Ich denke, das ist der Schock Armut gegen Reichtum. Und da hat man keine Konzepte.

swissinfo: Meinen Sie damit, dass Integration auch eine Frage der sozialen Klassen ist?

Angeline Fankhauser: Ich lebe in einer Region, in der gut ausgebildete Arbeitskräfte aus Amerika leben. Erstaunlicherweise verlangt kein Mensch, dass sie die deutsche Sprache lernen. Im Gegenteil, im Dorfladen spricht man Englisch mit ihnen.

Man begegnet ihnen mit viel Respekt und übernimmt auch ihre Bräuche, wie zum Beispiel „Halloween“. Es ist unglaublich, wie schnell sich die Schweizer da anpassen.

Aber wenn Türken feiern wollen, dann gibt es Reklamationen wegen dem Lärm. Was ich noch nicht weiss: Haben wir Probleme mit der Religion oder haben wir Probleme mit der Kaufkraft dieser Leute?

Ich habe noch erlebt, dass die Tamilen verpönt waren. Jetzt werden sie mit hohen Stimmenzahlen ins Parlament gewählt, wie in Luzern. Sie werden langsam Unternehmer, steigen in Kaderpositionen auf und sind akzeptiert.

Ich habe das Gefühl, dass man in der Schweiz vor allem Angst hat vor der Armut.

swissinfo-Interview: Andreas Keiser

Angeline Fankhauser war 1983-1999 Nationalrätin der Sozialdemokratischen Partei.

Freunde und Gegner attestieren ihr umfassende Sachkenntnisse, eine hohe Glaubwürdigkeit und ein grosses sozialpolitisches Engagement.

Während ihrer Amtszeit war sie als Präsidentin der staatspolitischen Kommission massgebend an den Asyldiskussionen beteiligt.

Seit dem 1. April erhalten abgewiesene Asylbewerber anstelle von Sozialhilfe noch eine einmalige Nothilfe von 600 Franken.

Kantone, Städte und Hilfswerke kritisieren diese Regelung.

Der Bund will damit den Ausreisedruck auf abgewiesene Asylbewerber erhöhen.

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