Steht der Nahe Osten vor einem Regionalkrieg?
Die Schweiz ruft zur Respektierung der Menschenrechte auf und verurteilt die "Agressionen der Hizbollah" und die "unverhältnismässige Reaktion" der israelischen Armee.
Der Schweizer Nahostexperte Arnold Hottinger sieht kein schnelles Ende der Krise. Zu den Verantwortlichen für die explosive Situation zählt er im Gespräch mit swissinfo auch die internationale Gemeinschaft.
Am Donnerstag griffen israelische Truppen und Flugzeuge zum zweiten Mal Ziele in Südlibanon an. Sie erwiderten damit den Überfall durch Hizbollah-Milizen, die zwei israelische Soldaten gefangen genommen und acht weitere getötet hatten.
Die Gewalttätigkeiten in Libanon gehen einher mit der israelischen Offensive im Gazastreifen. Dort möchte man einen weiteren israelischen entführten Soldaten befreien und die palästinensischen Raketenangriffe gegen Israel unterbinden.
Der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas sagte am Donnerstag, der israelische Einfall in Libanon verstärke die Gefahr eines grossräumigen Nahostkrieges. Er drängte die Weltmächte einzugreifen. Für den Freitag hat der UNO-Sicherheitsrat eine dringliche Sitzung beschlossen.
Auch das Schweizer Aussenministerium hat am Donnerstag die unverhältnismässige Reaktion der israelischen Streitkräfte in Libanon verurteilt. Wenn auch die Aggressionen der Hisbollah an der Grenze zu Israel zu verurteilen seien, so müsse die Reaktion Israels streng verhältnismässig bleiben. Kein nichtfeindlicher Nachbarstaat dürfe bedroht werden.
Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) begrüsste die libanesischen Anstrengungen, Wege aus der Krise zu finden und appellierte an alle Parteien, die zerstörerische Eskalation zu beenden, die zu einem regionalen Krieg mit verheerenden Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung der Regionen führen könnte.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) erinnerte Israel daran, dass die Grundbedürfnisse der 1,4 Mio. im Gazastreifen lebenden Palästinenser zu befriedigen seien. Es ersuchte auch die Entführer des im letzten Monat verschleppten israelischen Soldaten, diesen menschlich zu behandeln.
Gemäss dem Schweizer Nahost-Experten Arnold Hottinger wird sich die Krise nicht so schnell entschärfen. Mitverantwortlich für die gefährliche Lage sei auch die internationale Gemeinschaft, sagt er im Interview mit swissinfo.
swissinfo: Könnte man angesichts des zunehmenden Blutvergiessens in den vergangenen Tagen sagen, dass wir uns in Richtung eines neuen blutigen Konflikts in der Region bewegen?
Arnold Hottinger: Es hängt sehr von den Israelis ab, ob sie die libanesische Front wieder reaktivieren wollen oder ob sie sich mit ein paar Schlägen zufrieden geben und es dann sein lassen.
swissinfo: Der israelische Premierminister Ehud Olmert scheint jedoch unter Druck zu stehen, hart gegen Hamas und Hizbollah vorzugehen.
A.H.: Zweifellos. Die Armee steht hinter ihm, und es ist schwierig, [der Armee] zu erklären, sie müsse sich zurückhalten, nachdem sie durch die Gefangennahme der Soldaten einen gewaltigen Prestigeverlust erlitten hat.
Ich bin sicher, dass Olmert unter maximalem Druck der Armee steht, etwas zu tun, dass er aber gleichzeitig auch die politischen Konsequenzen bedenken muss.
swissinfo: Könnte die Verschleppung der drei israelischen Soldaten Israel an den Verhandlungstisch zurückbringen?
A.H.: Nein, sie wird aber unter den Palästinensern neue Hoffnung aufkeimen lassen, dass sie etwas erreichen können. Sie haben festgestellt, dass die Entführung der drei Soldaten die Israelis tief beeindruckt hat.
Aber die Palästinenser missverstehen die Situation. Tatsächlich missverstehen sich Palästinenser und Israelis gegenseitig. Denn die Israelis denken, wenn sie nur hart genug zuschlagen, würden die Palästinenser schon nachgeben. Und das trifft nicht zu.
swissinfo: Der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas hat um eine internationale Intervention gebeten. Wie viel Raum für Diplomatie gibt es denn jetzt noch?
A.H.: Es ist zu spät. Denn erstens schlagen sich die Amerikaner immer auf die israelische Seite. So sind die Palästinenser davon überzeugt, dass die Amerikaner kein wirklicher Partner sind. Und zweitens haben die Europäer keine klare Position, was sie tun möchten – und sie haben keine Kraft, um irgendetwas irgendwo zu bewegen.
swissinfo: Gab die Entscheidung der internationalen Gemeinschaft, die demokratisch gewählte Hamas-Regierung politisch nicht anzuerkennen, Israel grünes Licht für sein jetziges Vorgehen?
A.H.: Zweifellos ermutigte es Israel, dass niemand die Hamas anerkannte. Andererseits wurde auch die Hamas zum Handeln gezwungen. Hätte Hamas die Möglichkeit eines diplomatischen Auswegs gesehen, hätte sie ihn ergriffen.
swissinfo: So war es also für die internationale Gemeinschaft ein Einschätzungsfehler, die demokratisch gewählte Regierung der Palästinenser nicht anzuerkennen?
A.H.: Es wurde zu viel von «Terrorismus» geredet. Die Leute sagten: «Das sind Terroristen, also sprechen wir nicht mit ihnen.» Sie waren Terroristen und sie versuchten doch, etwas zu erreichen. Wir sprachen nicht mit ihnen, und so blieben sie Terroristen.
swissinfo: Sehen Sie den Ausbruch einer dritten Intifada und eine neue Welle von Selbstmord-Attentaten in Israel?
A.H.: Nein, Es gibt keine Intifada, weil die Mehrheit der Palästinenser zu müde ist. Es wird ein Bandenkrieg sein, wie in Irak.
swissinfo-Interview: Adam Beaumont
(Übertragung aus dem Englischen: Etienne Strebel)
Das Schweizer Engagement in Israel und den besetzen Gebieten besteht in der Hauptsache aus Entwicklungshilfe für die Palästinenser.
Diese wird durch nichtstaatliche und andere internationale Organisation verteilt. Die palästinensischen Behörden erhalten keine direkte Hilfe, ausgenommen das statistische Amt.
Schon früher in diesem Monat gelangte die Schweiz als Depositarstaat der Genfer Konventionen an Israel und forderte das Land auf, bei seinen Bemühungen, den in Gaza entführten Soldaten zu befreien, das internationale humanitäre Recht zu respektieren.
Die Schweiz war eine der wenigen westlichen Regierungen, welche die Hamas-Regierung nach ihrer Wahl im Januar anerkannt hat.
Das Schweizer Aussenministerium zeigte sich bereit, mit der palästinensischen Regierung zusammen zu arbeiten, wenn deren Tätigkeit auf Dialog und friedlichem Handeln basierte.
Weiter sollte die palästinensische Regierung ihren Verpflichtungen aus dem Osloer-Vertrag nachkommen und insbesondere das Existenzrecht Israels und die Zwei-Staaten-Lösung anerkennen.
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