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Sterbehilfe in der Schweiz: Wenn die Familie nichts vom Suizid weiss

Zwei Hände
Die meisten Menschen, die sich für den Tod entscheiden, tun dies im Kreise ihrer Angehörigen, aber es gibt auch Menschen, die es vorziehen, diese im Dunkeln zu lassen. Keystone

In Italien sorgte die Nachricht von einer Frau für Aufsehen, die zum Sterben in die Schweiz gekommen war, ohne ihre Familie zu informieren. Wie ist die Praxis der Sterbehilfeorganisationen in der Schweiz? Und welche Regeln gelten?

«Ich bin nicht gegen das Selbstbestimmungsrecht der Menschen. Ich hätte mich dem Entscheid meiner Frau zu sterben, nicht widersetzt, wenn ich sicher gewesen wäre, dass er wirklich gut überlegt und entschieden war.»

Die italienische Zeitung La Repubblica machte den Fall von Marta öffentlich, einer 55-jährigen Akademikerin aus Turin, die im vergangenen Oktober in Basel starb.

Verzweifelt über den Tod ihres jugendlichen Sohns nach langer Krankheit, hatte die Frau schon lange den Wunsch geäussert, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Die Familie hatte sie umstimmen können. So schien es zumindest. Bis zu der Reise in die Schweiz, die sie geheim hielt.

Hunderte von Kilometern entfernt, im Vereinigten Königreich, berichtete die Mail on Sunday kürzlich über einen anderen Fall. Der 47-jährige Chemielehrer Alastair Hamilton litt unter gesundheitlichen Problemen, für die ärztliche Untersuchungen und Konsultationen keine Erklärung gefunden hatten.

Seiner Familie gegenüber gab Hamilton an, er gehe einen Freund in Paris besuchen. Er starb im August 2022 in Basel mit Hilfe des Vereins Pegasos Schweiz. Die Familie warf dem Verein in scharfen Worten vor, «in Wildwestmanier» zu handeln.

Die Rolle der Familien

Der Schweizer Verein für freiwillige Sterbehilfe Pegasos wurde 2019 nach den Ereignissen um den Suizid von Professor David Goodall gegründet, der im Alter von 104 Jahren in Basel freiwillig aus dem Leben schied.

Auf der Website des VereinsExterner Link heisst es: «Pegasos geht davon aus, dass jeder Erwachsene, der eine usreichende [sic!] Urteilskraft (Entscheidungsfähigkeit) besitzt, unabhängig vom Gesundheitszustand das Recht hat, Art und Zeitpunkt des eigenen Todes zu bestimmen.»

Was die Rolle der Angehörigen betrifft, so hält es der Verein für richtig, diese zu informieren, «auch wenn Sie wissen, dass Sie für Ihr Vorhaben keine Unterstützung erhalten würden».

Denn «Ungesagtes kann noch gesagt werden und es ist zweifellos besser, Situationen abzuschliessen um keinen Raum für Bedauern zu lassen».

Pegasos-Gründer Ruedi Habegger erklärt gegenüber tvsvizzera.it, dass die Organisation «in enger Zusammenarbeit mit medizinischem Fachpersonal und den zuständigen Behörden» agiere. Zu konkreten Fällen könne sich der Verein nicht äussern, um die Privatsphäre der Betroffenen zu schützen.

Er weist jedoch darauf hin, dass eine gründliche Untersuchung im Gang ist, um ähnliche Fälle zu verhindern und die Gruppe der Freiwilligen, die mit ihm zusammenarbeiten, zu schützen. Denn im Fall des britischen Staatsbürgers sei «leider nicht die ganze Wahrheit gesagt worden».

Habegger betont: «Wir bestehen immer auf der Kommunikation mit den Angehörigen. Denn das ist einer der Unterschiede zwischen begleitetem Freitod und Suizid: Der gewaltsame Suizid findet im Verborgenen statt und hinterlässt bei Familie und Freunden Schuldgefühle. Der ’sanfte Tod› hingegen gibt die Möglichkeit, Abschied zu nehmen.»

Sowohl im italienischen als auch im britischen Fall klagten die Familien über Kommunikationsschwierigkeiten mit Pegasos. Ein Vorwurf, den der Verein zurückweist: «Wir sind immer bereit, mit den Familien in Kontakt zu treten.»

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Entscheidungsfähig sein

Nach gängiger Praxis in der Schweiz muss sich eine Person in einer «schweren Notlage» befinden, sich bewusst für den Tod entscheiden und sich selbst das Medikament verabreichen, das den Tod herbeiführt. Eine befreundete oder verwandte Person muss anwesend sein, damit der Leichnam identifiziert werden kann.

Für die Identifizierung gibt aber auch Alternativen, wie etwa die Zusammenarbeit mit der Zahnmedizin, die eine Kopie des Zahnröntgenbildes zur Verfügung stellen kann, oder die Begleitung durch Exit International. Diese australische Organisation hat ein spezielles Programm zur Unterstützung von Personen entwickelt, die ihr Leben in der Schweiz beenden möchten.

Der Direktor von Exit International, Philip Nitschke, erklärt gegenüber tvsvizzera.it: «Die Schweizer Gesetzgebung wird von Menschen in anderen Ländern oft missverstanden, weil sie davon ausgehen, dass nur eine Krankheit oder ein unheilbarer Zustand eine Voraussetzung ist. Dies ist jedoch nicht der Fall. Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, ist in der Schweiz ein Recht. Und etwa 20 Prozent der Menschen, die sich an uns wenden, geben an, sich körperlich gesund zu fühlen.»

Keine gesetzliche Regelung

Alle diese Vereine haben anschauliche Namen. Dignitas, Exit, Eternal Spirit, Pegasos, Lifecircle. Sie spiegeln die Werte wider, die ihrem Engagement zugrunde liegen. Ihr gemeinsames Element sind die Begriffe Selbstbestimmung, individuelle Freiheit und Mitgefühl.

In der Schweiz wurden Suizid und Suizidbeihilfe in den 1940er-Jahren entkriminalisiert. In den folgenden Jahrzehnten beschäftigten sich die Gerichte immer wieder mit dem Thema, und in einigen Kantonen wurden Initiativen für eine strengere Regelung lanciert.

Der Bund kam jedoch zum Schluss, dass keine Notwendigkeit für eine gesetzliche Regelung besteheExterner Link, da der gesetzliche Rahmen und die Richtlinien für das medizinische Personal ausreichend klar seien.

Externer Inhalt

Die Föderation der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) hat 2022 den von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) erarbeiteten TextExterner Link übernommen.

Dieser sieht vor, dass ein Arzt, eine Ärztin, mit einer sterbewilligen Person mindestens zwei ausführliche Gespräche im Abstand von mindestens zwei Wochen führen muss. Die letzte Revision der ethischen Richtlinien wurde 2021 abgeschlossen.

Sterbehilfe ist auch körperlich gesunden Menschen erlaubt

Aus rechtlicher Sicht ist diese Praxis in der Schweiz auch für Menschen zulässig, die nicht an einer körperlichen Krankheit leiden. Denn das Schweizerische Bundesgericht hat 2006 bekräftigtExterner Link, dass eine Person in der Lage sein muss, den Willen zum Sterben zu haben sowie besonnen und stabil sein muss.

Das Strafgesetzbuch legt fest, dass Menschen, die einer Person helfen, sich freiwillig das Leben zu nehmen, keine selbstsüchtigen Motive wie finanziellen Gewinn haben dürfen.

Laut Nitschke ist es nicht ungewöhnlich, dass die Familie negativ auf die Ankündigung eines geliebten Menschen reagiert, dass er sich entschieden hat, sein Leben zu beenden. Dies führt dazu, dass einige ihre Familie nicht informieren und im Geheimen handeln.

Wenn konkrete Handlungspläne auftauchen, eskalieren die Spannungen in der Familie oft und münden nicht selten in eine kritische Haltung gegenüber Organisationen, die Suizidbeihilfe anbieten.

Der Direktor von Exit International weist darauf hin, dass Familien oft glauben, sie hätten ein Recht auf Information. «Das ist aber nicht richtig. Wir sprechen hier von Erwachsenen, die in der Lage sind, eine informierte Entscheidung zu treffen. Wir haben eine Verantwortung ihnen gegenüber. Und wenn es ihr Wunsch ist, dass die Familie nicht einbezogen wird, respektieren wir ihren Entscheid.»

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