Strassentheater statt Krawalle
Zu einer Kundgebung gegen das World Economic Forum (WEF) kam es in Bern am Samstag nicht. Dafür zu unzähligen kleinen Aktionen zivilen Ungehorsams.
Das Grossaufgebot der Polizei machte aus der Innenstadt eine teilweise surreale Kulisse für die farbigen, friedlichen Proteste.
«Das WEF platzen lassen» und «Eine andere Welt ist möglich» steht auf den Ballonen, welche die Partei der Arbeit (PdA) an mehreren – bewilligten – Marktständen verteilt. Sie finden reissenden Absatz, nicht nur bei Kindern, sondern bei vielen Menschen, die sich in der Berner Innenstadt versammelt haben, um gegen das WEF ein Zeichen zu setzen.
«Ich bin gegen die Machtkonzentration von oben, die Hypermultimillionäre, die nach Davos stolzieren», sagt ein junger Mann auf dem Kornhausplatz. Zwei Jugendliche mit verklebten Mündern tragen ein kleines Transparent: «Consume and shut the f**k up. Is this Democracy?» Sie verteilen weisse, leere Zettel. «Wir haben nicht mehr das Recht zu schreiben, was wir wollen», erklärt die Frau.
Demoverbot und Umsatzeinbussen
Zumindest das Recht auf freie Versammlung ist an diesem Samstag in Bern ausser Kraft gesetzt: Der Stadtrat hat der Anti-WEF-Demonstration die Bewilligung verweigert, aus Angst vor Ausschreitungen. Entsprechend werden Kleingruppen von der Polizei resolut aufgelöst und Personenkontrollen durchgeführt.
Die Marktgasse, die zentrale Einkaufsstrasse, wird von Polizisten versperrt. Geländefahrzeuge mit hohen Gittern an der Kühlerhaube stehen in Reih und Glied. Vor dem Warenhaus Loeb und vielen andern Geschäften stehen private Sicherheitsleute, die für diesen Tag angeheuert wurden. Sie sollen den Ausverkauf vor den «WEF-Chaoten» und vor «Lämpen» schützen, wie Ladenbesitzer der Lokalpresse zu Protokoll gaben – schliesslich ist Ausverkauf.
«Hier läuft schon viel weniger als sonst», sagt die Angestellte in einem Kaffee in der Marktgasse. Der Marroni-Verkäufer unter dem Zytglogge-Turm hingegen spürt keine Einbussen. «Die Demonstrierenden kaufen nichts, aber alle, die gekommen sind um zu schauen.»
Peace and Police
Eine 65-Jährige mit Peace-Fahne ist nicht gekommen, um nur zu schauen. «Das WEF ist die Versammlung derer, die verantwortlich sind für die wirtschaftliche Entwicklung in der Welt», sagt sie. «Zuerst wurde das mit den schönen Worten Neoliberalismus und Globalisierung verkauft, in Wahrheit ist die Schere zwischen arm und reich grösser geworden.» Für das Polizeiaufgebot hat sie kein Verständnis. «Nicht in dem Mass. Nein, nein, nein.»
Wie gross das Aufgebot der Sicherheitskräfte ist, bleibt geheim. Im Rahmen des Polizeikonkordats sind aber Polizisten aus vier Kantonen zu Hilfe geeilt. Sie fahren in Kampfmontur mit vergitterten Militärlastern durch die Stadt. Der Wasserwerfer steht auch bereit. Journalisten gehen von mindestens 1200 Beamten aus, welche die Bundesstadt schützen.
Kontrollen und Verhaftungen
Die Beamten sind schon seit dem Morgen im Einsatz: Am Bahnhof wird kontrolliert, wer in Gruppen anreist oder so aussieht, wie sich der Einsatzleiter Globalisierungsgegner vorstellt.
Um Mittag haben rund 60 Polizeigrenadiere im unterirdischen Teil des Berner Bahnhofs einen Kordon gebildet und eine Gruppe Aktivisten aus der Romandie eingekesselt. Fotografen werden von der Bahnpolizei fortgewiesen.
Bis am Abend hat die Polizei laut eigenen Angaben Hunderte von Personen kontrolliert und 74 davon vorübergehend festgenommen. Laut Angaben des Demo-Bündnisses sind es bedeutend mehr.
Barrikaden vor dem Luxus-Hotel
Das Hotel Schweizerhof gegenüber des Bahnhofs ist mit Schaltafeln verkleidet, ebenso ein Juweliergeschäft und verschiedene Kleiderläden. Ein mutiger Secondhand-Shop vertraut auf farbige Zettel in den Schaufenstern, auf denen die Worte «Respect Please» stehen.
Viele Ladenbesitzer haben vor zwei Jahren bei Ausschreitungen in Bern schlechte Erfahrungen gemacht. Und bei den Anti-G8-Protesten im vergangenen Jahr konnten nicht mal die Schaltafeln die Läden vor eingeschlagenen Schaufenstern und Plünderern schützen.
Ein leerer Bundesplatz
Der Platz vor dem Parlamentsgebäude ist fast leer. Das Bundeshaus selber ist durch hohe Eisengitter abgesperrt. Eine Gruppe jurassischer Globalisierungsgegner fordert einen freien Jura und ein Ende der Privatisierung des Wassers in der Dritten Welt. Eine junge Aktivistin liegt in einem Käfig, grosse Papp-Pfeile deuten auf sie: «Anti-WEF-Demo».
Mitten auf dem Platz bläst eine Attac-Aktivistin Seifenblasen über den Platz. «Das macht die Leute friedlich.» Und es könnten auch die Schneeflocken in Davos sein. Vor der benachbarten Nationalbank hämmert ein junger Mann auf seiner Trommel.
In der Innenstadt jagen derweil Kapitalisten in Anzügen einer Weltkugel hinterher, welche von den Figuren «Gerechtigkeit» und «Menschenrechte» beschützt wird. Falsche Polizisten mit grotesken «Pozilei»-Uniformen und Pappschildern sorgen für Sicherheit. Strassentheater vor der Kulisse einer Bundesstadt im Belagerungszustand.
Abgewürgte Demo-Versuche
Nur zweimal formiert sich etwas wie ein klassischer Demonstrationszug. Kommunisten protestieren gegen das «imperialistische Gipfeltreffen», werden aber von einer Polizeikette aufgehalten.
Rund 300 Personen versuchen es später nochmals. Ihre Kundgebung wird von Gummischrot-Gewehren auf Kopfhöhe in einem Polizei-Kessel beendet. Nach knapp zwei Stunden können sie den Kessel verlassen, mit kalten Füssen und wenn sie einer Durchsuchung einwilligen.
Es gab in Bern an diesem Tag keine Demonstration. Oder, wie ein junger Mann sagt: «Es war eine riesige Demonstration in der ganzen Stadt.»
swissinfo, Philippe Kropf in Bern
Protesttag gegen das WEF am 22.01.2004:
Geschätzte Zahl Polizei-Beamte: Mindestens 1200
Geschätzte Zahl Demonstrierende: 1500 bis 2500
Hunderte von Kontrollen, mindestens 74 Verhaftungen.
Der Demonstrations-Umzug gegen das World Economic Forum (WEF) in Bern wurde nicht bewilligt.
Das Demo-Bündnis rief darum zu «fantasievollen Aktionen des zivilen Ungehorsams auf, um das Polizeidispositiv ins Leere laufen zu lassen».
Ladenbesitzer fürchteten Ausschreitungen, verbarrikadierten ihre Geschäfte und heuerten Sicherheitspersonal an.
Am Samstag kam es in der ganzen Innenstadt zu Aktionen wie Strassentheatern, Performances und Musik-Darbietungen.
Viele Jugendliche trugen Radios in ihren Rucksäcken die auf den alternativen Radio-Sender «Radio Rabe» eingestellt waren.
Bis am Abend blieb alles friedlich.
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