Tarek, Sahbi, Mehdi – Gefangene der Festung Europa
Nach dem Sturz des Machthabers Ben Ali sind Tausende junger Tunesier nach Europa aufgebrochen, auf der Suche nach Arbeit und Lebensperspektiven. Doch die meisten Glückritter stranden, auch in der Schweiz. Eine Reportage aus Lausanne.
Tarek (24 Jahre alt), Sahbi (25) und Mehdi (23) sind in Lausanne gestrandet. Die Stadt am Genfersee ist aber nur Zwischenstation einer Reise in die erhoffte bessere Zukunft. Zusammen mit einem Dutzend anderer Migranten sitzen sie im Empfangsraum des Tageszentrums in Boveresses.
Unter dem Tisch versucht Mitarbeiterin Estelle Konté-Karlen, die unterbrochene Internetverbindung wieder herzustellen. Dies ist wichtig, denn die jungen Männer verbringen die Stunden des Tages zu einem grossen Teil mit Surfen.
«Wir wollen eine Arbeit finden, um unser Leben und die Situation unserer Familien in Tunesien zu verbessern», tönt es unisono aus den Mündern von Tarek, Sahbi und Mehdi. Jeder habe aber seine eigene Geschichte, schiebt Letzterer nach. Das Haar mit Gel frisiert, lebhafte Augen, blasser Teint: Mehdi hat nicht die Züge, um in der ersten Gesichtskontrolle als Nordafrikaner hängen zu bleiben.
Doch die Reise ohne Ziel und ohne Geld in der Festung Europa hinterlässt seit drei Monaten für Spur der Enttäuschung. Und das nicht nur bei Mehdi.
Lampedusa einfach
Der ausgebildete Mechaniker hatte in seiner Heimat jährlich während neun Monaten für eine Genfer Firma Surfbretter gefertigt. Am Rand der Sahara, 280 Kilometer entfernt von seiner Heimatstadt Sidi Bouzid, wo der Aufstand begonnen hatte, verdiente er 200 Franken monatlich. «Das reicht nicht, um in Tunesien ein würdiges Leben zu führen», sagt Mehdi.
Als das Regime Ben Alis am 14. Januar stürzte und die Grenzen plötzlich offen standen, drängte der 23-Jährige zusammen mit rund 20’000 anderen jungen Männern Richtung Lampedusa. Für die Überfahrt per Boot musste er umgerechnet rund 1300 Franken bezahlen.
Auf der Insel eingetroffen, erhielt Mehdi von Italien zwar eine provisorische Aufenthaltsbewilligung, aber keine Arbeit. Er übernachtete in Parks oder leeren Lagerhallen und beschloss, seine Reise fortzusetzen. Die französischen Behörden schickten ihn nach zwei Tagen wieder nach Italien zurück, und Mehdi sah sich nach einer anderen Möglichkeit um.
Eines Abends sah er am Fernsehen einen Bericht über tunesische Immigranten, welche im Tessin in die Schweiz einreisten. «Landsleute sagten mir, dass die Schweiz ein gutes Land sei und zudem das einzige, in dem man Asyl erhalten kann», erzählt Mehdi.
Am 23. Mai steht er im Erstaufnahmezentrum Chiasso, wo er einen Asylantrag stellt. Der junge Mann erhält eine provisorische Aufenthaltsbewilligung, den so genannten N-Ausweis und wird nach Lausanne überstellt. Zwar weiss Mehdi, dass er als Wirtschaftsmigrant kaum Aussicht auf Asyl in der Schweiz hat, will aber die Arme nicht hängen lassen. «Um keinen Preis will ich nach Tunesien zurück!», sagt er kategorisch.
Chaos statt Perspektive
Auch Sahbi schliesst eine Rückkehr in die Heimat aus. «Es herrscht Chaos, die Situation hat sich nach dem Sturz Ben Alis nicht verbessert. Ich habe dort nichts mehr», sagt der Älteste des Trios. Die Werkstätte zur Reparatur von Handys, die er betrieben habe, sei bei den Protesten im Januar zerstört worden.
In Frankreich war Sahbis Reise nicht nach zwei, sondern nach zehn Tagen beendet: Seinen Aufenthalt in einem Gefängnis in Lyon bezeichnet er als «Alptraum».
Tarek, der dritte im Bunde und ein Cousin von Mehdi, schaffte es am längsten, sich in Frankreich zu halten. Aber die drei Monate, die er in Parks von Toulouse lebte, hat er in schlechter Erinnerung: «Es gab viel Rassismus und viele Kontrollen durch die Polizei.» Schliesslich stellte er in Vallorbe im Kanton Waadt einen Asylantrag.
Spannungen
Zwar ist die Irrfahrt in der Schweiz von weniger Repression begleitet, doch bleibt die Reise beängstigend. «Ich bin jung, kräftig und bereit, für jeden Lohn zu arbeiten. Den ganzen Tag über nichts zu tun macht mich krank», beschwert sich Sahbi.
Die jungen Männer hätten den Eindruck, in der Schweiz willkommener zu sein als in Italien oder Frankreich, sagt Estelle Konté-Karlen. «Die Hoffnung ist zuerst gross, aber sie merken rasch, dass ihre Lage hier ebenso schwierig ist, und das bedeutet zusätzlicher Stress.»
Im Tageszentrum Boveresses kann sie sich jeden Tag ein Bild des Gemütszustands ihrer Klienten machen. Überbelegung, ethnische Spannungen und der erzwungene Müssiggang sorgen nicht nur im Lausanner Zentrum für Probleme. Kantone namentlich in der Ostschweiz haben jüngst den Bund aufgerufen, die Asylverfahren zu beschleunigen und Arbeitsmigranten rasch des Landes zu verweisen.
Estelle Konté-Karlen verneint zwar nicht, dass Alkohol und Gruppendruck zu Konflikten beitrügen. «Aber in der Regel haben diese jungen Menschen eine gute Kinderstube und solide Prinzipien. Sie sind sehr um das Image besorgt, das sie vor allem gegenüber den Medien abgeben.»
Jalel Matri bestätigt den Eindruck von Konté-Karlen. Er leitet in Genf einen Billardsaal, der für die Gemeinde seiner tunesischen Landsleute in der Rhonestadt zu einem Zentrum geworden ist.
«Sie stammen mehrheitlich aus überbevölkerten Quartieren in Städten aus dem Süden, den Ben Ali wirtschaftlich vernachlässigt hatte. Sie wurden streng erzogen und kennen keine Kleinkriminalität», sagt Matri.
Keine andere Wahl
Der Traum der Nordafrikaner von einem helvetischen Eldorado zerbricht in kurzer Zeit. «Sie merken rasch, dass das Leben in der Schweiz teuer ist und sie hier kaum Aussicht auf Arbeit haben», so Matri weiter. Die meisten versuchten ihr Glück deshalb in Frankreich. Einerseits wegen des grösseren Netzes von Landsleuten, andererseits wegen der grösseren Möglichkeiten zur Schwarzarbeit.
Die Zahl der Arbeitsmigranten, die aus Nordafrika in den Schengenraum drängten, wird gemäss dem Genfer Billardsaal-Betreiber zwar noch etwas zunehmen, sich aber bis in einigen Monaten normalisieren. «Einerseits sinkt die Zahl der Ausreisewilligen, andererseits treten immer mehr Tunesier den Weg zurück in ihre Heimat an.»
Noch sind Mehdi, Sahbi et Tarek nicht soweit. Zwar ohne Ausweg, von Verzweiflung geplagt, und ohne den anfänglichen Leichtsinn, haben die drei Glücksritter ihren Glauben dennoch noch nicht verloren. «Wir warten auf unsere Chance. Kommt sie, packen wir zu, eine andere Wahl haben wir nicht.»
Von Januar bis Mai 2011 haben in der Schweiz 8120 Personen einen Asylantrag gestellt.
Allein im Mai waren es 2254 Anfragen, was eine Zunahme von 51% gegenüber dem April bedeutet.
An der Spitze der Bilanz nach sechs Monaten standen Menschen aus Eritrea (1645), vor Tunesien (758).
Laut Bundesamt für Migration (BFM) hat rund ein Drittel davon bereits in einem anderen Land des Schengenraums einen Asylerstantrag gestellt. Dies ist meist in Italien geschehen.
Nach dem arabischen Frühling haben die Zahlen der Asylanträge von Menschen aus dem übrigen Nordafrika und dem Nahen und Mittleren Osten laut BFM stagniert oder sind nur leicht gestiegen.
Weltweit sind rund 43 Mio. Menschen auf der Flucht. Der Grund sind Konflikte, Umweltkatastrophen oder Nahrungsmittelkrisen.
Gemäss UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) sind mehr als 26 Mio. Menschen Vertriebene innerhalb des eigenen Landes.
Die grössten Gruppen intern Vertriebener stellt Pakistan (2,9 Mio.), Iran und Syrien (je 1,8 Mio.).
Die drei Länder sind gleichzeitig die grössten Aufnahmedestinationen von Flüchtlingen (Pakistan 1,7 Mio. Iran und Syrien (1,1 Mio).
(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)
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