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Taxidienst in die Schule

"Graue Hauslieferung": Von und in die Schule chauffiert. KUM

Schulbeginn für Tausende von Erstklässlern. Viele von ihnen, aber auch ältere Schulkinder, nehmen den Weg nicht mehr unter ihre Füsse, sondern werden chauffiert.

Zeitmangel, Ängste und vielleicht auch Bequemlichkeit bewegen Eltern dazu, ihre Sprösslinge zu fahren. Dem selbständigen Schulweg kommt aber eine grosse soziale und gesundheitliche Bedeutung zu.

Rasch vorbei am Vorplatz mit dem bissigen Hund, der an seiner Kette zieht, drohend knurrt und die Zähne fletscht. Die Zeit vergessen beim Beobachten der Schmetterlinge, die im verwunschenen Garten von Frau Kägi luftig leicht von Blüte zu Blüte flattern. Genussvolles Inhalieren und Nase plattdrücken am Schaufenster der Bäckerei Lobsiger.

Die Erinnerungen an den Schulweg zeigen wichtige Erfahrungen auf, dank denen man tiefer ins Leben eintauchen konnte, durch die man vom Leben selbst lernte.

Auf solche Erfahrungen müssen heute viele Kinder verzichten, weil sie von ihren Eltern in die Schule gefahren werden. «Nach einer unserer Untersuchungen können rund 25% der Kinder unter 5 Jahren in städtischen Gebieten nicht alleine ins Freie», sagt der Psychologe Marco Hüttenmoser, der die Forschungs- und Dokumentationsstelle «Kind und Umwelt» betreibt, gegenüber swissinfo.

«Eine Untersuchung auf dem Land hat ergeben, dass dort rund ein Drittel der Kinder bis 5 Jahren nicht allein ins Freie spielen gehen können.» Die Verkehrsverhältnisse seien oft zu gefährlich.

Dies habe direkte Auswirkungen auf den Schulweg, denn Kinder aus einem Wohnumfeld, in dem sie sich nicht selbständig bewegen und spielen können, müssten denn auch oft über Jahre hinweg auf ihrem Schulweg begleitet werden.

«Kinder, die draussen spielen, sich bewegen, selbständig Kontakte pflegen, können nachher auch selbständig zur Schule gehen», erklärt Hüttenmoser.

«Einerseits hat der Staat, die Gemeinde die Verpflichtung, für sichere Schulwege zu sorgen. Eine Gemeinde, die sich weigert, flächendeckend Tempo 30 einzuführen, kann von den Eltern nicht fordern, dass sie die Kinder immer zur Schule bringen», betont der Psychologe.

Angst vor Gewalt, Entführung

Das Verschwinden der fünfjährigen Ylenia im Appenzell hat Ende Juli Schlagzeilen gemacht. Dass das Mädchen einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel, ist zu befürchten.

Emotionen gehen hoch, auch Angst, dass den eigenen Kindern so etwas zustossen könnte. Marco Hüttenmoser versucht, den Fall in einen grösseren Zusammenhang zu stellen.

«Pro Jahr verunfallen auf dem Schulweg rund 1200 Kinder. Der Fall Ylenia, die Entführung, ist ein Einzelfall. Das heisst, die Gefahr, im Verkehr zu verunfallen, ist viel grösser, als sexuell missbraucht oder entführt zu werden.» Dies seien so seltene Fälle, dass man davon keine allgemeine Angst ableiten dürfe.

«Das deckt sich auch mit der Ansicht der meisten Eltern, die überzeugt sind, dass die grösste Gefahr vom Verkehr ausgeht und nicht vor Entführung oder Gewalt.»

Verkehrs- und Sozialkompetenz

Auf die Bedeutung des Schulwegs weist auch die Verkehrspolizei Zürich mit einem Flyer hin, der in den nächsten Wochen an die Eltern verteilt werden soll.

«Kinder, die mit dem Auto zur Schule gefahren werden, können den Verkehr nicht miterleben», bestätigt denn auch Walter Jucker, Dienstchef Verkehrsinstruktion der Kantonspolizei Zürich.

«Wir empfehlen den Eltern, die ihr Kind noch nicht alleine in die Schule schicken können, es zu Fuss zu begleiten. So lernt es, sich im Strassenverkehr richtig zu bewegen.»

Die Kantonspolizei wolle den Eltern aber keine Anweisungen geben, sondern Empfehlungen. «Die Eltern wollen ja das beste für ihr Kind und wir sagen, das beste für das Kind ist, zu Fuss zur Schule gehen zu können. Nur so lernt es, sich mit dem Verkehr auseinander zu setzen.»

Grundsätzlich lernen Kinder auf dem Schulweg auch Sozialkompetenz, sie lernen, sich auch ausserhalb von Elternhaus oder Schule durchzusetzen, sind sich der Psychologe und der Verkehrsinstruktor einig.

Gesundheit

Die Kinder können sich Mitschülerinnen und –schülern, die den selben Weg haben, nicht aussuchen. Mit einigen werden sie Freundschaft schliessen, andere werden sie nicht gerne mögen. Es wird gestritten und es werden Konflikte gelöst.

In Bezug auf den Verkehr sei es aber gefährlicher, wenn Kinder in Gruppen gingen, schränkt der Psychologe ein. «Wenn Kinder spielen, haben sie keine Augen mehr für den Verkehr.»

Trotzdem: Die regelmässige Bewegung der Kinder auf dem Schulweg hat vorbeugende Wirkungen gegen Übergewicht, Diabetes oder Bluthochdruck – Zivilisations-Krankheiten, unter denen immer mehr Menschen bereits im Jugendalter leiden.

swissinfo, Etienne Strebel

«Warte»
Am Strassenrand stehen bleiben. Damit wird das Kind gezwungen, routinemässig vor jedem Betreten der Fahrbahn einen Stopp einzulegen, was verhindert, dass es unvermittelt auf die Strasse tritt.

«Luege, lose»»
Aufmerksamkeit auf beide Seiten richten. Fahrbahn erst betreten, wenn keine Fahrzeuge mehr vorbeifahren oder alle Fahrzeuge angehalten haben.
Kinder im Vorschul- oder Unterstufenalter können weder Distanzen noch Geschwindigkeiten einschätzen. Sie können daher bei einem fahrenden Fahrzeug nicht beurteilen, ob sie die Strasse noch rechtzeitig vor dem Gefährt überqueren können, auch wenn es noch so langsam rollt.

«Laufe»»
Die Fahrbahn aufmerksam überqueren, nicht rennen. Wir schauen alle etwa dort hin, wo wir uns in 3 Sekunden aufhalten. Rennende Kinder können den Verkehr nicht mehr beobachten.

Anhalten bis zum Stillstand
Fahrzeug 3-5 m vom Kind entfernt bis zum Stillstand anhalten. Kindergärtner und Erstklässler können weder Distanzen noch Geschwindigkeiten abschätzen. Kinder meinen, Autos könnten immer sofort anhalten.

Keine Zeichen geben
Hand- und Lichtzeichen könnten Kinder verleiten, die Fahrbahn zu betreten, ohne auf den übrigen Verkehr zu achten. Ein Handzeichen eines Erwachsenen versteht ein Kind als Aufforderung, die Strasse sofort zu überqueren.

Geduld haben
Kinder brauchen Zeit, um die Strasse zu überqueren. Ein Kind braucht am Anfang bis zu 10 Sekunden Entscheidungszeit. Mit dem nötigen Selbstvertrauen, verringert sich diese massiv.

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