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Tiefgefroren und kaum Hoffnung auf Fortschritt

November 2011: Strassenblockade in Mitrovica. AFP

Der Einsatz der Schweizer Armee in Kosovo verschiebt sich immer mehr vom relativ stabilen Süden in den Norden, wo der Konflikt zwischen Albanern und Serben für Unruhen sorgt. swissinfo.ch war mit der Swisscoy im tief verschneiten Land unterwegs.

«Solange hier Serben leben, solange verstehen wir uns als Teil Serbiens. Die Regierung in Pristina hat hier nichts verloren», sagt der Mann: «Aber es gibt keinen Hass. Die Albaner sagen ihren Kindern nicht, die Serben seien böse. Das gilt auch im umgekehrten Sinn.» – Eine Generationenfrage also das Ganze? – «Nein, unsere Generation lebt ja noch!

Der Mann ist Serbe. Er hat eine leitende Funktion auf der Verwaltung des serbischen Teils der geteilten Stadt Mitrovica. Er trifft sich regelmässig mit einem Beobachtungs- und Verbindungsteam der Swisscoy zu informellen Gesprächen.

«Nein, das war lediglich ein Geplänkel zwischen zwei Nachbarn, das hat sich wieder gelegt», sagt er auf die Frage von Teamchef Daniel Oettli, ob in einem Stadtteil, in dem es wegen Problemen bei der Stromversorgung in den vergangenen Wochen wiederholt zu Scharmützeln gekommen ist, ethnische Spannungen zu befürchten seien.

Kaum noch Leben

Wir fahren im Jeep weiter in den albanischen Teil im Süden der Stadt, vorbei an zwei Strassensperren. Die erste ist unbewacht, die Sperre über den einzigen fahrzeugtauglichen Übergang über den Fluss Ibar, die Austerlitz- Brücke, ist beidseits bewacht, aber die Wachen haben nichts zu tun.

Die Ruhe hat auch mit dem hochwinterlichen Wetter zu tun. Kosovo liegt unter einer dicken Schneedecke. Es ist bitterkalt und es schneit unerbittlich weiter. Die wenigen Fahrzeuge, die überhaupt noch unterwegs sind, kämpfen – grösstenteils mit Sommerpneus – gegen die kaum gepfadeten, glitschigen und hoch gefährlichen Strassenverhältnisse. Die Schulen sind geschlossen, Fussgänger sind nur ganz wenige unterwegs.

Ethnischer und politischer Konflikt

«Die Lage ist ruhig, aber angespannt. Wenn jetzt ein Albaner einen Serben überfahren würde, könnte das umgehend Demonstrationen und Unruhen auslösen», sagt der Schweizer Oberst Adolf Conrad, der im Auftrag der Nato-Friedenstruppen(KFOR) für die Friedenssicherung in Kosovos Norden zuständig ist.

Seit im vergangenen Sommer kosovarische Zöllner die Kontrolle an der Grenze zu Serbien übernommen haben, revoltieren die Kosovo-Serben dagegen. Sie haben Strassensperren errichtet, einen Grenzposten angezündet und Umfahrungsstrassen gebaut. Das Territorium gehört offiziell zu Kosovo, aber dessen staatliche Institutionen haben keine Kontrolle darüber.

Vor wenigen Wochen haben serbische Heckenschützen einen kosovarischen Polizisten erschossen. Im Januar kam es verschiedentlich zu Schlägereien zwischen Kosovo-Serben und Soldaten der Nato-Truppen.

Die Schweizer, die Augen und Ohren

«Wenn die Situation eskaliert, ziehen wir uns zurück», sagt Conrad zur Rolle seiner Beobachtungs- und Verbindungsteams (LMT). Die Schweizer Soldaten und Offiziere haben die Aufgabe, den Puls der beiden Bevölkerungsgruppen zu messen. Conrad bezeichnet sie als die «Ohren und Augen» des KFOR-Kommandanten.

Konkret heisst das: Die drei Schweizer LMT gehen wie ihre Kollegen von den zwei slowenischen LMT regelmässig auf Patrouille, markieren so Präsenz und sprechen mit ihren Informanten der serbischen und albanischen Seite. Wie und ob die KFOR eingreift, entscheidet deren Kommandant in Pristina.

Dem Süden geht es kaum besser

Szenenwechsel. Malisheva im Süden war und ist eine Hochburg der Kosovo-Befreiungsarmee UÇK. Die Bevölkerung ist weitgehend albanisch. Die Region gilt als politisch stabil. Das Militärcamp im nahen Suva Reka, in dem seit 1999 auch die Soldaten der Swisscoy untergebracht sind, wird im Sommer 2012 aufgehoben und zurück gebaut.

Armut, Arbeitslosigkeit und fehlende Perspektiven gehören zum Alltag. Der Abfall landet auf Feldern oder in zerbombten Roma-Siedlungen. Die Abwasser fliessen ungereinigt ab. Die Hygiene und die medizinische Ausrüstung in den Spitälern sind miserabel. Zwei Mal täglich fällt der Strom aus.

Jetzt, da die notdürftig verlegten Stromleitungen teilweise dem Schnee nicht standhalten, fällt er in einzelnen Quartieren auch gänzlich aus. Wirtschafts-Wachstum ist keines in Sicht.

Feuerwehr und Wiederverwertung

Die LMT Teams sind in Häusern untergebracht. Eines der beiden Swisscoy-Häuser steht im Zentrum von Malisheva. Der Hauseingang führt in einen Empfangsraum. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Gegend kennen das Haus und kommen vorbei, wenn sie ein Anliegen haben. Meistens seien das Probleme mit dem Wasser, der Stromversorgung oder andere Alltagsprobleme, sagt Teamleiter Marcel Kuoni.

Als im vergangenen Sommer in der Gegend ein Waldbrand wütete und die lokale Feuerwehr ausserstande war, ihn zu löschen, verständigten die Schweizer die KFOR. Diese schickte Helikopter, die den Brand  löschten.

Seit einiger Zeit trennt die Wohngemeinschaft der Soldaten den Abfall. Ein Nachbar holt ihn ab und führt die geeigneten Materialien der Wiederverwertung zu. «Das verschafft ihm immerhin etwas Geld», sagt Kuoni.

Das «Schloss» inmitten der Misere

Diesen kleinen Erfolgen stehen auch Misserfolge gegenüber. So hat Norwegen vor einigen Jahren den Bau einer Gewerbeschule finanziert. Die Schule funktioniert, aber die Schulabgänger haben keine Chance, eine Lehrstelle zu finden.

Oberleutnant Augusto Rizzo erzählt von einem türkischen Investor, der in Malisheva den Bau einer grossen Recycling-Anlage geplant hatte. Einen kleinen Staudamm für das Kühlwasser und ein Bürogebäude hatte er bereits bauen lassen, als ihm der Gemeinderat beschied, er müsse, wenn er weiter bauen wolle, 10’000 Euro bezahlen. Der Investor zog von dannen. «Korruption ist hier weit verbreitet», sagt Oberleutnant Augusto Rizzo.

Wir fahren nacheinander an einer Grosssägerei und an einem vor einigen Jahren neu gebauten Restaurant vorbei, das aussieht wie ein mittelalterliches Schloss. Das «Schloss», vor dem eine amerikanische Stretch-Limousine parkiert ist und die Sägerei gehören Familienmitgliedern eines ehemaligen Mitglieds der Zentralregierung in Pristina.

Am 17. Februar beging Kosovo den 4. Jahrestag seiner einseitigen Unabhängigkeits-Erklärung.

Nur wenige Tage vorher haben die sich die Serben im Norden in einer Referendumsabstimmung mit 99.74% der Stimmen für einen Verbleib bei Serbien ausgesprochen.

Von den 35’500 Stimmberechtigten haben laut der serbischen Nachrichtenagentur Beta rund 75% am Referendum teilgenommen.

Juristisch ist die Abstimmung jedoch bedeutungslos.

Die EU betrachtete die Volksabstimmung als problematisch. Weder Gewalt und Barrikaden noch ein Referendum seien die Lösung für den Konflikt zwischen den Regierungen in Belgrad und Pristina, sagte eine EU-Sprecherin in Brüssel. «Wir werden eine Lösung nur durch Konsultationen und durch Dialog erreichen.»

Die EU versucht derzeit, in dem Konflikt zu vermitteln.

Serbien befürchtet durch das Referendum einen Rückschlag für seine Bemühungen, EU-Beitrittskandidat zu werden. Voraussetzung dafür sind Fortschritte hin zu einem guten nachbarschaftlichen Verhältnis zwischen Pristina und Belgrad.

Laut der Volkszählung 2011 hat die Republik Kosovo mehr als 1,7 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner.

Kosovo wird heute in großer Mehrheit von Albanern bewohnt. Schätzungen der Weltbank aus dem Jahr 2000, denen das statistische Amt von Kosovo bis heute folgt, gehen von 88 % Albanern, 7 % Serben und 5 % der übrigen ethnischen Gruppen aus.

Die grosse Mehrheit der Serben wohnt im Norden Kosovos. Dort sind sie in der Mehrheit.

Seit 1999 beteiligt sich die Schweiz an der Mission der internationalen Friedenstruppe KFOR unter Leitung der NATO.

Jedes Jahr sind gegen 220 Schweizer Swisscoy-Soldaten in Kosovo stationiert.

Die Schweiz hat Kosovo bereits zehn Tage nach der Unabhängigkeits-Erklärung vom 17. Februar 2008 als neuen Staat anerkannt.

Bereits 2005 hatte sie sich als eines der ersten Länder für die Unabhängigkeit Kosovos ausgesprochen.

Zu der raschen Anerkennung der Unabhängigkeit Kosovos durch die Schweiz trug auch die grosse Zahl von Kosovaren in der Schweiz bei.

Rund 170’000 Kosovaren leben in der Schweiz, das sind etwa 10% der Bevölkerung Kosovos.

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