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Tragödie führte zur Annäherung zweier Völker

Das Parlamentsgebäude in Budapest erstrahlte in den Nationalfarben. Keystone

In Budapest hat Moritz Leuenberger an die engen Bande erinnert, die seit der Aufnahme von 14'000 Flüchtlingen nach dem Aufstand von 1956 zwischen der Schweiz und Ungarn bestehen.

Der Bundespräsident gehörte zu den Gästen des 50. Jahrestags des Volksaufstandes von 1956. Bei einem Treffen mit ungarischen Studenten erörterte er die Europapolitik der Schweiz.

«Die Intervention der sowjetischen Truppen in Ungarn war eine Tragödie», betonte Bundespräsident Leuenberger am Montag in der Hauptstadt Budapest.

«Doch die Ankunft und die Integration tausender vor der kommunistischen Unterdrückung geflüchteter Menschen in der Schweiz hat es vielen Ungarn und Schweizern ermöglicht, sich kennen zu lernen und Freundschaften zu schliessen.»

Der Bundespräsident hat am Morgen an den offiziellen Festlichkeiten teilgenommen, um mit den ungarischen Gastgebern der Revolution des 23. Oktobers und deren Opfer zu gedenken.

Präsident Laszlo Solyom und Premier Ferenc Gyurcsany empfingen dazu vor dem Parlamentsgebäude etwa 20 Staats- und Regierungschefs aus ganz Europa, darunter neben Leuenberger auch EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso und NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer.

200’000 Flüchtlinge

Auch die Präsidenten jener Länder, welche die über 200’000 Menschen aufgenommen hatten, die vor 50 Jahren vor der Unterdrückung durch das kommunistische Regime geflüchtet waren, waren eingeladen.

In einer beispiellosen Solidarität hatte die kleine Schweiz damals rund 14’000 Flüchtlinge aus Ungarn aufgenommen.

Die Feiern waren überschattet von innenpolitischen Konflikten und neuen Krawallen. Am Rande kam es zu Strassenschlachten zwischen der Polizei und Demonstranten. Die Polizei setzte Tränengas und Wasserwerfer gegen rund 1000 Demonstranten ein.

Neue Ära der Sicherheit

«Ich war 1956 gerade 10 Jahre alt», erklärte Leuenberger. «Ich hatte damals Angst, dass die sowjetischen Truppen auch in der Schweiz einmarschieren könnten. Ich konnte nicht schlafen und auch mein Vater, der mich beruhigen wollte, konnte seine Angst nicht verbergen.»

Heute müssten Kinder in Ungarn und der Schweiz keine Angst mehr haben. «Die Wiedervereinigung des Kontinents und die Entstehung einer Friedensordnung gehören zu den fundamentalen politischen Errungenschaften Europas. Auch der Widerstand und der Mut des ungarischen Volkes haben einen Teil dazu beigetragen.»

Leuenberger unterstrich, dass diese Errungenschaften keine Selbstverständlichkeit sind. Es sei jeden Tag nötig, für den Frieden und die Demokratie in Europa zu kämpfen.

Hommage an Fotografen der Revolution

Am Nachmittag enthüllte Leuenberger auf dem Platz der Republik in Budapest eine Büste für den grossen Fotografen Jean-Pierre Pedrazzini. Der französisch-schweizerische Staatsbürger war am 30. Oktober an diesem Ort von 14 Kugeln getroffen worden und wenige Tage später gestorben.

Er hatte die Revolution für das Magazin «Paris Match» fotografiert und gilt als Schweizer Ikone des Volksaufstandes.

Bei seiner Rede erwähnte Leuenberger die «Fotografien, die vor 50 Jahren der Wahrheit dienten, der Wahrheit, die der Fotograf mit seinem Leben bezahlte». Pedrazzinis Bilder hätten bis heute eine Aussagekraft und würden das politische Bewusstsein und das Gewissen einer Gesellschaft schärfen.

«Seine Bilder gingen um die Welt und sind ein Teil des kollektiven Bewusstseins geworden», sagte die französische Europaministerin Catherine Colonna. «Er hat die Seele der Revolution begriffen.»

Europapolitik

Schliesslich traf Leuenberger gegen Abend einige Dutzend ungarische Studenten der deutschsprachigen Universität Andrassy. Dieses von Präsenz Schweiz organisierte Treffen ermöglichte es dem Bundespräsidenten, die Schweizer Demokratie und Europapolitik zu erörtern.

«Vor 30 Jahren hätte niemand gedacht, dass Ungarn einmal Mitglied der Europäischen Union sein würde – und das noch vor der Schweiz», erklärte er.

«Anstatt des Beitritts hat die Schweiz den Bilateralen Weg gewählt. Für die einen erlaubt dieser Weg, den Beitritt zu verhindern. Für andere wie mich führt er eines Tages in die EU: Wenn wir Übereinkommen zu jedem Thema gefunden haben werden, dann steht einem Beitritt nichts mehr im Weg.»

swissinfo, Armando Mombelli, Budapest
(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

Am 23. Oktober 1956 wächst eine kleine Kundgebung von Studenten in Budapest in kürzester Zeit zu einer Massendemonstration gegen das kommunistische Regime an. Hunderttausende von Personen nehmen daran teil.

Tags darauf geht die Bevölkerung in weiteren Städten Ungarns auf die Strasse. Gefordert werden Presse- und Meinungsfreiheit, freie Wahlen sowie die Unabhängigkeit von der Sowjetunion.

Am 4. November marschiert die Rote Armee ein und unterstützt die Niederschlagung des Aufstands. Bei heftigen Auseinandersetzungen verlieren 2600 Ungarn ihr Leben. Tausende von Personen werden verhaftet und Hunderte zum Tode verurteilt.

Zwischen November und Dezember fliehen 200’000 Ungarn nach Westeuropa. Die Schweiz nimmt 14’000 Flüchtlinge auf.

In der Schweiz leben zur Zeit zirka 4000 ungarische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger.
1600 Schweizerinnen und Schweizer leben in Ungarn.
In den meisten Fällen handelt es sich um ehemalige ungarische Flüchtlinge, die nach ihrer Pensionierung in der Schweiz in ihr Heimatland zurückgekehrt sind.

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