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«U17-WM-Titel als grossartiges Beispiel von Integration»

21 Spieler, 12 Länder, 3 Kontinente, 1 Team: Die U-17-Weltmeister nach dem Finalsieg.

Sport als globalste Form von Alltagskultur ist besonders geeignet für die Integration von Menschen aus anderen Kulturen, sagt Paul Ruschetti. Ein Gespräch mit dem Bündner Sportsoziologen zum Internationalen Tag der Migranten vom 18. Dezember.

Am 15. November sorgte ein verschworener Haufen von Jungspunden für eine Sensation: Die U17-Nationalmannschaft aus der kleinen Schweiz gewann in Nigeria mit einem Finalsieg gegen die Gastgeber den WM-Pokal.

Das Besondere: Es war eine richtige Multikulti-Equipe, die den ersten Weltmeistertitel der Schweizer Fussballgeschichte holte. Die Youngsters haben Wurzeln in zwölf Ländern auf drei Kontinenten.

Eine kleine Auswahl aus dem grossen U17-Team gefällig? Nassim Ben Khalifa, Tunesien. Ricardo Rodriguez, Chile. Sead Hajrovic, Bosnien-Herzegowina. Pajtim Kasami, Mazedonien. André Gonçalves, Portugal. Frédéric Veseli, der Kapitän, stammt aus Kosovo.

Richtig: Mit Torhüter Benjamin Siegrist, Oliver Buff, Janick Kamber oder Roman Buess standen auch «waschechte» Schweizer im gloriosen Team von Trainer Andy Ryser.

Zur Nachahmung empfohlen

Der Erfolg zeigt: Der Schweizerische Fussballverband ist punkto Nachwuchsförderung Weltspitze. Und Nachwuchsarbeit auf dem Rasen ist heute zu wesentlichen Teilen auch Integrationsarbeit, dominieren doch in den Klubs die «Secondos» die «Einheimischen» zahlenmässig klar, was die unteren Altersstufen angeht.

Sich kennenlernen, voneinander lernen, den anderen schätzen, ihm vertrauen, als Team Erfolge erringen, Unterschiede vergessen: Dies sind nach dem Sportsoziologen Paul Ruschetti die wesentlichen Bestandteile von Integration, wie der Schweizerische Fussballverband so erfolgreich vorführt.

Weshalb das Team der weltmeisterlichen Youngsters die Schweiz von morgen darstellt, sagt der 54-jährige Bündner im folgenden Gespräch.

swissinfo.ch: 1,3 Millionen Schweizerinnen und Schweizer erlebten den WM-Finalsieg der Schweizer U17-Fussballer am Bildschirm, eine Traumeinschaltquote. Zwei Wochen später sagt das Schweizer Stimmvolk Ja zum Minarettverbots-Initiative. Ein Widerspruch?

Paul Ruschetti: Sicher. Der WM-Titel dieser jungen Mannschaft ist ein hervorragendes Beispiel für die Integrationsfähigkeit des Sportes. Er steht dafür, dass Integration funktioniert.

Man kann Integration als Zusammenfügen von verschiedenen Teilen und Werten zu einem Ganzen verstehen. Der Finalsieg ist ein grossartiges Beispiel dafür, wie sich jeder einzelne integriert hat in ein Team, denn letztlich haben sie als Team gewonnen. Die unterschiedliche kulturelle Herkunft war völlig unwichtig.

Der Widerspruch liegt darin, dass beim Ja zum Minarettverbot diffuse Ängste gegen das Fremde und Unbekannte den Ausschlag gaben. Gewisse Kreise schüren diese Ängste und kochen darauf ihre politische Suppe.

swissinfo.ch: Dient das erfolgreiche Integrationsmodell des Schweizerischen Fussballverbandes als Beispiel für die Politik, die ja einen entsprechenden Integrationsauftrag hat?

P.R.: Es wäre schön, wenn die Politik sich daran orientiert, denn es funktioniert ja. Es sind die gleichen Prinzipien, die dahinter stehen. Integration heisst zusammen kommen und sich kennenlernen. Der Sport ist ein hervorragendes Mittel dazu, weil Sport die globalste und zugleich eine der populärsten Form von Alltagskultur ist. Und das sowohl in aktiver als auch in passiver Form, wie auch die hohen Einschaltquoten am Schweizer Fernsehen zeigen. Diese Popularität bietet die Möglichkeit, ganz unterschiedliche Kreise anzusprechen und zusammen zu fügen.

Wenn man dieses Potenzial auch ausserhalb des Sportes nutzen kann, ist es möglich, solide Grundvoraussetzungen für eine Integration zu schaffen.

swissinfo.ch: Ist Sport der Gesellschaft hier einen Schritt voraus?

P.R.: Es gibt in der Gesellschaft auch andere gute Beispiele für eine Integration. Aber Sport eröffnet viele Chancen, um integrativ zu wirken. Was im Sport funktioniert, kann auch in anderen Bereichen gelingen.

swissinfo.ch: Hat das Integrationspotenzial von Sport auch Grenzen?

P.R.: Ja. Man kann nicht einfach davon ausgehen, dass Sport per se das Heilsmittel ist, das sofort funktioniert. In Deutschland, wo ich hauptsächlich tätig bin, haben Studien gezeigt, dass Mädchen und Frauen von integrativen Sportprogrammen weniger erreicht wurden.

swissinfo.ch: Was können Schweizer Jugendliche von ausländischen Kollegen lernen, wenn wir bei der U17 bleiben?

P.R.: Im Sport treffen verschiedene Temperamente aufeinander: Draufgänger, Spieler, Risikobereite, Solide, Zuverlässige usw. Menschen aus bestimmten Kulturen sind spielfreudiger und wagen mehr, wenn wir an lateinamerikanischen Fussball denken.

Die wichtigste Botschaft lautet: Im Sport lösen sich Schranken gleich welcher Art vollkommen auf. Ein Team wie die Equipe der U17-Weltmeister kann nur funktionieren, wenn jeder den anderen als Teampartner schätzt und ihm vertraut. Die Unterschiede gehen dabei vergessen. Konfliktpotenzial kann sich aber überall zeigen, auch im Sport.

swissinfo.ch: Stehen die U17-Weltmeister für die Schweiz von morgen?

P.R.: Ja, weil die Mobilität der Menschen durch die Globalisierung viel grösser geworden ist. Europa und insbesondere die Schweiz haben eine grosse Zuwanderung erfahren. Gerade Sport kann sichtbar machen, dass diese positiv sein kann.

Zukunftsweisende Integrationsmodelle im Sport sind übrigens nichts Neues. Einige der heute weltweit populärsten europäischen Fussballklubs wurden unter massgebender Mitwirkung von Einwanderern gegründet, und zwar erfolgreich.

Einer davon ist Inter Mailand, der 1908 als Football Club Internazionale di Milano gegründet wurde. Der Name war nicht zufällig gewählt. Die Gründer, zu denen übrigens auch einige Schweizer gehörten, wollten damit explizit ihre kosmopolitische Haltung ausdrücken.

Auch das Erfolgsmodell FC Barcelona hat ‹Migrationshintergrund›. Gegründet wurde er 1899 auf Initiative des damals 22jährigen Schweizers Hans Gamper, der von Winterthur nach Spanien ausgewandert war.

Weder für die einheimischen noch die zahlreichen ausländischen Fans von Inter oder Barça schmälert diese Tatsache die Begeisterung für ihre damals wie heute interkulturellen Lieblingsvereine.

Renat Künzi, swissinfo.ch

«Unterdrückt, ungebildet und der Sprache unkundig»: So werden Migrantinnen oft wahrgenommen und dargestellt. Die Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen (EKM) kritisiert dies. Die Stereotype sollten durchbrochen werden, fordert sie.
Wie Migrantinnen in der politischen Debatte und in den Schweizer Medien dargestellt werden, haben Wissenschaftler der Universität Bern untersucht. Die Kommission für Migrationsfragen hat die Studie am Freitag mit dem Titel «Frauen in der Migration» präsentiert.

Sportsoziologe und Lehrbeauftragter an der Uni Tübingen (Deutschland) sowie Dozent für empirische Sozialforschung an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur.

Bis im 2007 war er Leiter des Departements Research des Weltfussballverbandes FIFA.

Er war auch mehrere Saisons Medienverantwortlicher des Europäischen Fussballverbandes Uefa in der Champions League.

Eine Auswahl:

Roger Federer (Tennis, Südafrika).

Stanislas Wawrinka (Tennis, Deutschland/Tschechien).

Martina Hingis (Tennis, Tschechien).

Timea Bacsinszky (Tennis, Ungarn).

Tranquillo Barnetta, Philippe Senderos, Valon Behrami, Johan Dijouru (Fussball-Nationalmannschaft).


Donghua Li (Kunstturnen, China).

Sergei Aschwanden (Judo, Kenia).

Fabian Cancellara (Rad, Italien).

Sebastien Buemi (Formel 1/Italien).

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