Verdingte Kinder – verdrängtes Thema
Sklavenarbeit, Prügel, sexueller Missbrauch, Angst und Isolation prägten den Alltag der Verdingkinder, sagt der Berner Historiker Marco Leuenberger im Gespräch mit swissinfo.
Historiker wollen jetzt das Verdingwesen, eines der dunkelsten Kapitel der jüngsten Schweizer Geschichte, endlich aufarbeiten.
Marco Leuenberger war 10 Jahre alt, als ihm sein Vater über dessen Zeit als Verdingbub erzählte. Was der Vater mit 10 Jahren hatte durchmachen müssen, fort von der Familie, um 5 Uhr aufstehen und bis abends um 20 oder 21 Uhr arbeiten, habe ihn sehr getroffen, so Leuenberger.
Heute ist er 45 Jahre alt und Historiker. Ausgehend vom Schicksal des Vaters verfasste Leuenberger 1991 die bisher einzige grössere Untersuchung über das Verdingwesen.
Kinder aus ärmsten Verhältnissen wurden an Bauern verschachert. «Die meisten der Kinder wurden als billige Arbeitskräfte ausgebeutet, körperlich gezüchtigt und auch sexuell missbraucht», so das Fazit Leuenbergers in seiner Studie.
Jetzt, da die meisten ehemaligen Verdingkinder in hohem Alter stehen, haben sich Leuenberger und Historiker-Kollegen daran gemacht, das bisher verdrängte Thema gesamtschweizerisch aufzuarbeiten. Sie reichten letzte Woche beim Schweizerischen Nationalfonds ein entsprechendes Projekt ein.
swissinfo: War die Verdingung eine landesweite Praxis?
Marco Leuenberger: Ja, in der deutschen Schweiz, vor allem in den reformierten Kantonen, teilweise auch in katholischen. Es gab sie auch in der Waadt. Aus dem Tessin sind Kinder bekannt, die als Kaminfeger in Norditalien arbeiten mussten.
swissinfo: Wie viele Verdingkinder hat es gegeben?
M.L.: Während Jahren waren es immer mehr als 10’000 Kinder, die verdingt waren. Eine Schätzung ist aber sehr schwierig, weil für die Zeit vor 1820 keine Quellen existieren. Zudem wurden sehr viele Kinder ohne Wissen der Behörden verdingt.
swissinfo: Wie lief eine Verdingung «administrativ» ab?
M.L.: Die armen Familien mussten sich immer Ende Jahr auf der Gemeinde melden zur so genannten Etat-Aufnahme. Dann wurde entschieden, wie viele Familienmitglieder anschliessend versorgt wurden. Die Behörden hatten im 19. Jahrhundert das Recht, verarmte Familien aufzulösen.
swissinfo: Wieso waren die Behörden blind gegenüber dem Unrecht, das Verdingkindern angetan wurde?
Damals war die Optik eine andere. Heute spricht man von Kinderrechten, Kinderarbeit, Recht auf Schulbildung. Das waren im 19. Jahrhundert keine Themen. Die eigenen Kinder mussten ja auch mit anpacken. Die Armut war damals ein grosses Problem.
swissinfo: Der Photoreporter Paul Senn und der Schriftsteller und Journalist C. A. Loosli machten grausame Schicksale von Verdingkindern publik. Löste dies Reaktionen aus?
M.L.: Kaum. Kritiker gab es schon im 19. Jahrhundert. Das waren aber einsame Rufer in der Wüste. Für die Platzierung von Verdingkindern gab es praktisch keine Kriterien, welche die neue Familien erfüllen musste. Der Bedarf nach einem Verdingkind als Arbeitskraft reichte als «Qualifikation».
swissinfo: Trugen Verdingkinder von der schweren Arbeit körperliche Schäden davon?
M.L.: Das gab es oft. Vielfach bekamen die Kinder auch zu wenig zu essen. Das zeigte sich vor allem bei der Rekrutierung für den Militärdienst. Sie waren viel kleiner und leichter als die anderen.
Es blieben aber auch seelische Narben zurück. Viele Verdingkinder haben sich später im Leben nie mehr zurecht gefunden. Es gibt Statistiken, wonach recht viele von ihnen straffällig wurden.
swissinfo: Verdingkinder wurden oft auch sexuell missbraucht…
M.L.: In den Gerichtsakten fand ich Dutzende solcher Fälle, die aber meistens nicht publik wurden. Üblicherweise wurde das Problem gelöst, indem man das Kind an einem anderen Ort platzierte.
swissinfo: Gab es auch Verdingkinder, die sich beschwert, gewehrt oder gerächt haben?
M.L.: Einige versuchten dies, aber sie fanden in der Regel nirgends Gehör.
swissinfo: Hatten die gerichtlichen Verfahren Konsequenzen für die Täter?
In den mir bekannten Fällen setzte es minime Strafen wie Bussen, aber keine Haftstrafen ab.
swissinfo: Die Kinder wurden in einzelnen Gemeinden noch um 1920 bis 1930 auf Märkten regelrecht versteigert. Wie kam es ausgerechnet zu solchen Sklavenmärkten in der «freien» Schweiz?
M.L.: Das kann man nicht erklären. Eine Erklärung war damals auch gar nie nötig.
swissinfo: Die Verdingung erinnert an die Aktion «Kinder der Landstrasse», wo die Kinder von Fahrenden ihren Eltern weggenommen und umplatziert wurden. Wurden auch solche Kinder verdingt?
M.L.: Ja. Hinter beiden Phänomenen steckt eine ähnliche Mentalität: Den Betroffenen, besonders Kindern, sprach man Rechte ab, die ihnen zustanden. Armut galt damals als selbst verschuldet, nach der Formel «Armut gleich Faulheit». Als das beste Mittel dagegen galt Arbeit, je härtere, desto besser.
swissinfo: Ehemalige Verdingkinder, Historiker und Politiker fordern jetzt die historische Aufarbeitung des Themas. Wie ist das Vorgehen?
M.L.: Wir wollen das Thema gesamtschweizerisch aufarbeiten, was bestimmt 2 bis 3 Jahre dauern würde. Letzte Woche haben wir beim Schweizerischen Nationalfonds ein Gesuch für eine Einzelstudie eingereicht, mit der Universität Basel als Basisinstitution. Allenfalls müssen wir auch versuchen, mit Sammlungen und Spenden selbst ein Projekt zu finanzieren.
swissinfo: Wo liegen die Hauptschwierigkeiten?
M.L.: Es gibt sehr wenig Quellen. Bei den Gemeinden und in den Archiven gibt es meist nur nackte Zahlen. Schriftliche Quellen der Betroffenen sind sehr selten. Deshalb haben wir am Schweizer Fernsehen einen Aufruf gemacht, dass sich ehemalige Verdingkinder bei uns melden sollen.
swissinfo: Weitere Forderung ist eine Wiedergutmachung für das erlittene Unrecht.
M.L.: Von Behördenseite wäre das Mindeste, dass man zu den Fehlern der Vergangenheit steht. Die Behörden sollten sich dafür bei allen ehemaligen Verdingkindern entschuldigen.
swissinfo: Ehemalige wie Arthur Honegger kritisieren, dass Sie und Ihre Kollegen die Aufarbeitung «zu weltfremd» und zu wenig transparent angehen würden.
M.L.: Wir haben unsere Aktions-Gemeinschaft ohne Auftrag gegründet. Momentan arbeiten wir die Rahmenbedingungen aus, und erst wenn wir wissen, wie wir das Projekt lancieren wollen, können wir dies bekannt geben. Wir sind aber keine geschlossene Gesellschaft, denn wir suchen noch mehr Personen, die mithelfen.
swissinfo: Honegger vermisst zudem, dass die Betroffenen in Hearings in den Prozess einbezogen werden.
M.L.: Ich begreife die Ungeduld. Honegger erwartet jetzt aber eindeutig zu viel. Für Hearings ist es im Moment noch zu früh.
swissinfo: Werden die ehemaligen Verdingkinder ihre «Rehabilitierung» noch erleben?
Ich hoffe es. Ich bin zuversichtlich, obwohl es noch keine definitive Unterstützung für unser Projekt gibt. Allein können wir das nicht aufarbeiten.
swissinfo-Interview: Renat Künzi
Im Kanton Bern wurden zwischen 1850 und 1900 pro Jahr 6000 Kinder verdingt.
1910 waren in der Schweiz rund 10’000 Verdingkinder registriert. Gesamthaft gab es wohl mehrere 10’000, genaue Zahlen fehlen.
Die Verdingung betraf somit einen grossen Teil der Schweizer Bevölkerung.
In einzelnen Fällen wurden Kinder noch bis etwa 1970 verdingt.
Kinder aus armen Verhältnissen wurden verdingt.
Es gab Märkte, wo Verdingkinder wie Sklaven versteigert wurden.
Sie mussten auf Bauerhöfen Schwerstarbeit leisten. Sie wurden auch geprügelt und sexuell missbraucht.
Die Fürsorgebehörden ignorierten das Unrecht.
Viele Verdingkinder erlitten körperliche und seelische Schäden.
Viele von ihnen landeten in der Delinquenz.
Historiker wollen die Verdingung jetzt historisch aufarbeiten.
Sie und Ehemalige fordern, dass sich die Schweizer Regierung offiziell bei den Betroffenen für das erlittene Unrecht entschuldigen soll.
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