Vom «Swiss barber» zum «Hair & make-up artist»
Im Alter von 20 Jahren ist Reto Camichel vom Engadin nach Südafrika ausgewandert. In seinem Koffer hatte er seine Lieblingskleider, viele Träume und 500 Franken. Inzwischen hat der Coiffeur internationale Karriere gemacht und ist als "Haar-Künstler" in ganz Europa bekannt.
Wir treffen Reto Camichel am Meer in Noordhoek, an einem der suggestivsten Strände von Kapstadt. Es ist ein merkwürdiger Ort für eine Person, die – wie er – in einer der kältesten Regionen der Schweiz aufgewachsen ist.
Was hat ihn hierher gebracht? Warum hatte er Lust, seine Heimat zu verlassen? Es sind die klassischen Fragen, die ein Auswanderer beantworten muss.
«Ich war 20 Jahre alt und hatte Lust, aus der kleinräumigen Realität des Tals auszubrechen, ich wollte Englisch lernen und dann…war da plötzlich das Kap der Guten Hoffnung.» Reto erinnert sich, dass es damals in S-chanf heftig schneite. Er blätterte einen Atlas durch, auf der Suche nach einem Ort oder einem Namen, der ihn inspirieren könnte. Das «Kap der Guten Hoffnung» schien wie eine Einladung zu sein.
Einer seiner Bekannten kannte tatsächlich einen Schweizer Coiffeur, der dort lebte. «Ich nahm das Telefon und rief ihn an. Und Arthur Schellinger konnte mir einen Arbeitsplatz anbieten. In Kapstadt, Südafrika!»
Ende der 1980er-Jahre war die Bezeichnung «Swiss barber» gleichbedeutend mit hochstehender Qualität.
Der «Swiss barber»
In seinem Koffer packte Reto einige seiner liebsten Kleidungsstücke, natürlich sein Coiffeur-Set und 500 Franken. «Im Gepäck waren auch die Erinnerungen an eine glückliche Kindheit, meine Naivität und Unbedarftheit, ein Haufen Träume sowie ein Gemisch aus Mut und Angst», sagt Reto, während er seine Augen hinter einer gestylten Brille verbirgt. Er spricht ein ausgefeiltes und flüssiges Englisch.
«Als ich in Kapstadt ankam, fühlte ich mich nicht wohl: Ich sprach kein Wort Englisch und kannte niemanden. Ich war in einem Dorf mit 600 Einwohnern aufgewachsen. Hier fühlte ich mich einsam. Meine grösste Angst? Ich fürchtete, von einem Auto überfahren zu werden und auf der Strasse zu liegen, ohne dass irgend jemand meinen Namen aussprechen könnte.»
Die Geschichte von Reto klingt wie ein Märchen. Und die anfängliche Angst hat sich längst verflüchtigt. Eine Dame, die an uns vorbei läuft, grüsst ihn: «Hi Reto!» Camichel steht auf, umarmt sie und macht ihr ein Kompliment für ihr Out-Fit. Sie lächelt und geht weiter. Und jetzt ist klar: Der Junge aus dem Engadin ist auch in Kapstadt einfach nur der «Reto».
«Trotz meiner anfänglichen Ängste hatte ich grosses Selbstvertrauen in meine beruflichen Fähigkeiten», erzählt er. «Ich hatte mein Können bei einem Schweizer Lehrmeister in einer hervorragenden Berufsschule erworben.»
Zwei Jahre nach seiner Ankunft in Kapstadt verlässt er Herrn Schellinger und eröffnet seinen eigenen Coiffeur-Laden. Auf seinem Firmenschild erkennt man das weisse Kreuz auf einem leuchtend roten Untergrund: «Ich wusste, dass der gute Ruf der Schweizer Coiffeure mir helfen konnte.»
Liebe und Melancholie
In Kapstadt hat Reto auch seine grosse Liebe getroffen. Heute ist er Vater von zwei Töchtern. Beide sprechen weder Romantsch noch Deutsch. Er bereut, dass er seinen Kindern nicht die eigene Muttersprache beigebracht hat, aber er ist sicher, die richtigen Werte vermittelt zu haben.
«Als ich aufwuchs, wusste man genau, was richtig und falsch war. Wenn ich mich heute umsehe, habe ich das Gefühl, dass alle zu schnell erwachsen werden. Das habe ich von der Schweiz mitgebracht.»
Die Melancholie hat stets die Seele zerrissen. Und auch Reto ist vor diesem Gefühl nicht ganz gefeit. «Das kriegst du nie ganz weg», sagt er mit einem Lächeln. Und der Ausdruck seiner Augen bestätigt die Worte. «Ich lebe hier, aber ich fühle mich nicht ganz als Südafrikaner, aber auch nicht ganz als Schweizer. Mir fehlen nahe stehende Personen, insbesondere meine Eltern.»
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
Für Reto bedeutet die Schweiz Vergangenheit, Wurzeln, seine Ausbildung und das Bewusstsein moralischer Werte. All dies erlaubt ihm das zu sein, was er geworden ist: «Ich bin stolz, Schweizer zu sein.»
In Südafrika ist er ein erfolgreicher Unternehmer geworden. Er führt einen Coiffeur-Salon in Westlade, nur wenige Kilometer von der schönsten Gegend Kapstadts entfernt. Er beschäftigt neun Angestellte. Und er hat eine eigene Kosmetik-Marke für Haarprodukte entworfen. Häufig hält er sich in Europa auf, im Auftrag der Designer-Marken Sebastian und Wella.
Er arbeitet im Hintergrund der Laufstege als hyper-kreativer Haar-Deisgner für Models. Daher wird er auch «Hair & make-up artist» genannt. Er gehört in Europa zu den besten sieben in der Branche.
Vor einigen Jahren hatte Reto Camichel starke nostalgische Gefühle. Mit seiner Frau und den Kindern kehrte er in die Schweiz zurück, nach Samedan. Doch die Familie hielt es nicht lange aus – keine zwei Monate. «Meine Zukunft ist in diesem fantastischen Land, in dem ich mich frei entfalten konnte, unabhängig von den Zwängen meiner Vergangenheit», sagt Camichel heute.
Kapstadt sei eine kosmopolitische und aufregende Stadt. Ideal für einen Künstler, der sich um das äussere Image von Personen kümmert.
Wenn der Erfolg anhält und er genug Geld auf die Seite legen kann, dürfte es ihm eines Tages gelingen, seine «wahre Leidenschaft» ganz zu leben: Die Kunst in all ihren Formen, frei von jeglichen Einschränkungen.
«Diese Art von Schweizer Sturheit fehlt mir nicht»
Bevor wir uns verabschieden, erzählt Reto Camichel noch eine kleine Anekdote: Vor einigen Jahren habe er zusammen mit seinen Töchtern am traditionellen 1.-August-Fest des Schweizervereins in Kapstadt teilgenommen.
Die Familie bastelte eine äusserst originelle Laterne. Und es gab einen Wettbewerb für die schönsten Laternen. Doch die Laterne der Familie Camichel wurde nicht begutachtet, weil sich die Familie nicht rechtzeitig in den Wettbewerb eingeschrieben hatte. «Diese Art von Schweizer Sturheit fehlt mir nicht», sagt er. Und lacht.
Igor Sertori, Kapstadt, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
Reto Camichel wird am 6. Juni 1969 in Samedan (Kanton Graubünden) geboren.
An der Berufsschule von Samedan erlangt er sein Diplom als Coiffeur.
Im Jahr 1989 emigriert er nach Südafrika.
Im Jahr 1991 eröffnet er seinen ersten Salon. Heute führt er einen der führenden Coiffeur-Läden von Kapstadt. Er hat zudem eine eigene Marke für Haarprodukte entwickelt.
Nach einigen Jahren als «Hair & make-up artist» in Südafrika arbeitet er für die Designerprodukte Wella und Sebastian in Amsterdam, Berlin, Zürich, Moskau und London. Camichel gilt als einer der sieben besten Haar-Stilisten von Europa.
Im Jahr 1487 erreichte Bartolomeu Diaz das Kap der Guten Hoffnung. Er stand in Diensten des Königs von Portugal. Die ersten Schweizer kamen wahrscheinlich um 1652 in Südafrika an. Sie arbeiteten für die niederländische Ostindien-Kompanie.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kamen nur fünf Schweizer pro Jahr in Kapstadt an. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahm die Zahl der Schweizer Einwanderer deutlich zu, genauso wie die Vielfalt der Berufe: Ingenieure, Schreiner, Missionare, Konditoren, Uhrmacher, Coiffeure.
Heute leben 9035 Schweizer in Südafrika (Stand 2009). Rund 6200 besitzen die doppelte Staatsbürgerschaft. 1714 oder umgerechnet ein Fünftel sind Rentner. In Kapstadt um Umgebung leben 2500 Schweizer Bürger.
Südafrika ist eine parlamentarische Republik mit drei Hauptstädten: Kapstadt (Legislative), Pretoria (Exekutive) und Bloemfontein (Judikative).
Nach dem Fall des Apartheid-Regimes 1990 wird Südafrika häufig auch die Regenbogennation genannt, weil das Land von so vielen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe bewohnt ist. Das Land hat 41,5 Millionen Einwohner und 11 offizielle Sprachen.
Die Apartheid wurde 1950 vom südafrikanischen Parlament eingeführt. Sie beruhte auf einem rigiden Rassensystem. 1963 verlangte die UNO ein Waffenembargo für Südafrika, und 1973 wurde die Apartheid als Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert. 1985 wurden Sanktionen beschlossen. Trotzdem hielt die Schweiz an Handelsbeziehungen mit Südafrika fest.
1986 begann die Schweiz, südafrikanische Nicht-Regierungsorganisationen zu unterstützen, die sich für Menschenrechte und Demokratisierung im Land einsetzen. Im Jahr 2000 erhielt das Nationale Forschungsprojekt (NFP 42+) den Auftrag, die Schweizer Südafrika-Politik einer wissenschaftlichen Untersuchung zu unterziehen.
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