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Warum das IKRK in den USA attackiert wird

In Guantánamo wird ein Gefangener zu einem Verhör abgeführt. Keystone

Eine Kommission des US-Kongresses erhebt harte Vorwürfe gegen das IKRK. Die Organisation sei von ihrer Neutralität und Unparteilichkeit abgewichen.

Im swissinfo-Gespräch erklärt Pierre Hazan, Forscher in Harvard, die Gründe für diese Angriffe, aber auch, warum die USA kein Interesse daran haben, die Glaubwürdigkeit des IKRK zu untergraben.

Eine Kommission des Kongresses in Washington hat vor kurzem einen Bericht veröffentlicht, in dem das Internationale Komitee vom Roten Kreuz IKRK heftig angegriffen wird. Die Kommission beschuldigt die humanitäre Institution, «ganz bewusst von ihren Gründungsprinzipien der Neutralität und Unparteilichkeit abgewichen»

Die Kritik, vornehmlich aus konservativen Kreisen, kommt in einer Zeit, in der immer mehr Stimmen in den USA die Schliessung des Gefangenenlagers von Guantánamo verlangen.

Pierre Hazan, früher Journalist bei der französischen Tageszeitung «Libération» und der Genfer Zeitung «Le Temps», schreibt seit Jahren über humanitäre Krisen und die Aktivitäten internationaler Organisationen wie der UNO. Hazan forscht zur Zeit an der Universität Harvard (USA); im Zentrum seiner Arbeiten steht das internationale Strafrecht.

swissinfo: Wie interpretieren Sie diesen Angriff auf das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, IKRK?

Pierre Hazan: Das IKRK scheint durch seine öffentlichen Stellungnahmen, aber auch durch die Verbreitung vertraulicher Berichte eine äusserst ernsthafte Bedrohung für die Regierung Bush darzustellen. Denn diese Berichte stellen die Rechtmässigkeit des amerikanischen Engagements in Irak in Frage.

Ausserdem sehen sich die Amerikaner ganz klar als Vertreter der Freiheit. Diese Sicht wird unter anderem auch durch das IKRK in Frage gestellt, indem es die Art kritisiert, mit der die USA heute Demokratie in die ganze Welt exportieren wollen.

Deshalb könnte der Gedanke aufkommen, das IKRK arbeite gegen die Interessen der USA.

swissinfo: Versuchen die Konservativen in den USA, das IKRK in Misskredit zu bringen?

P.H.: Die Regierung Bush versucht, sich gegen einen Meinungsumschwung in der amerikanischen Öffentlichkeit zu wappnen.

Immer mehr Bürgerinnen und Bürger in den USA fangen nämlich an, daran zu zweifeln, ob der Krieg in Irak gerechtfertigt war. Und seit mehreren Monaten kann die Armee nicht mehr genügend Leute rekrutieren.

Ausserdem sprechen sich demokratische und republikanische Parlamentsabgeordnete im Senat und im Kongress für die Schliessung von Guantánamo aus, das sie als Katastrophe für das weltweite Image der USA betrachten. Die gleiche Forderung kommt auch von den früheren US-Präsidenten Jimmy Carter und Bill Clinton.

Im übrigen ist sich jetzt auch die Regierung Bush selber des Problems und seiner Auswirkungen, insbesondere in der arabisch-muslimischen Welt, bewusst geworden.

swissinfo: Wieso denn die Polemik gegen das IKRK?

P.H.: Das IKRK spielt eine besondere Rolle. Die amerikanische Regierung fühlt sich gestört durch gewisse Nichtregierungs-Organisationen wie Amnesty International (AI), die das Lager in Guantánamo mit einem Gulag verglichen hat.

Für diese Anschuldigungen stützt sich AI auf die Glaubwürdigkeit und Rechtmässigkeit des IKRK.

Die Regierung Bush gibt sich Mühe, klarzustellen, dass Massnahmen gegen die Misshandlungen ergriffen wurden, und dass es nun keine Probleme mehr gebe. Ihre Strategie ist es, die Augen vor der Wirklichkeit zu schliessen.

swissinfo: Strebt die Regierung Bush noch immer Reformen der Genfer Konventionen an?

P.H.: Es gab in der Tat informelle Diskussionen über die Anpassung der Genfer Konventionen (welche die Grundlage des humanitären Völkerrechts sind) an den Wandel, der durch den Krieg gegen den Terrorismus entstanden sein soll.

Aber die USA sind nicht wirklich an Reformen der Genfer Konventionen interessiert. Sie möchten vielmehr ihre eigene Interpretation des bestehenden humanitären Völkerrechts durchsetzen.

swissinfo: Die amerikanische Parlaments-Kommission spricht davon, dem IKRK den Geldhahn zuzudrehen. Ist diese Drohung ernst zu nehmen?

P.H.: Die Drohung liegt auf dem Tisch. Aber sie kommt von einer Gruppe von Republikanern am äussersten rechten Rand. Die Administration Bush versucht hingegen, ihre Beziehungen insbesondere zu Europa zu verbessern. Eine Kürzung des IKRK-Budgets würde dieser Politik zuwiderlaufen.

swissinfo: Haben die USA ein Interesse an der Schwächung des IKRK?

P.H.: Sicher nicht. Übrigens ist das Pentagon, das Verteidigungs-Ministerium, selber gespalten. Einerseits ist da die zivile Direktion des Ministeriums, die gegenüber den Genfer Konventionen sehr kritisch eingestellt ist, andererseits haben wir das Militär. Dieses weiss genau, dass ein starkes und glaubwürdiges IKRK eine wesentliche Garantie für amerikanische Soldaten ist, die in Gefangenschaft geraten.

swissinfo-Interview: Frédéric Burnand, Genf
(Übertragung aus dem Französischen: Charlotte Egger)

Die Genfer Konventionen und ihre Zusatz-Protokolle sind Teil des humanitären Völkerrechts. Es sind Rechtsgarantien, die sich auf die Art der Kriegsführung beziehen.

Sie schützen insbesondere Personen, die nicht an den Feindseligkeiten beteiligt sind oder nicht mehr an Kampfhandlungen teilnehmen.

Die Konventionen und Zusatz-Protokolle sehen vor, dass Massnahmen ergriffen werden, um schwerwiegende Verletzungen zu verhindern oder solchen ein Ende zu setzen. Wer solche Verletzungen begeht, muss bestraft werden.

Über 190 Länder sind den Konventionen beigetreten. Die Schweiz ist der Depositärstaat der Konventionen und steht so in einer besonderen Verantwortung.

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